An der Universität zu Köln ist es seit einigen Monaten sehr still. Die Seminare und Vorlesungen wurden ins Netz verlagert, beziehungsweise in die Wohnzimmer der Studierenden. In Präsenz fanden nur einige Prüfungen statt, in der großen Aula im Hauptgebäude, wo der Abstand und die richtige Lüftung gewährleistet werden konnten. Doch an der Uni organisieren sich auch die Künste: Theatergruppen, angehende Autoren, bildende Künstler und Musiker vernetzen sich über das Studium oder die Arbeit an der Uni und treffen sich in den vielgestaltigen Räumlichkeiten. Allein unter dem Namen „Collegium musicum“ bildete sich eine große Anzahl von Ensembles, Chören und Orchestern heraus – organisiert von Sophia Herber, Wiebke Heyens und Michael Ostrzyga.
Die Uni Köln führt ein strenges Regime der Corona-Auflagen. Ein riesiges Volumen an Situationen galt es, mittels Krisenstab einzuschätzen – und dass man dort alles Menschenmögliche versucht hat, um den Betrieb irgendwie wieder in Gang zu kriegen, ist nicht zu bezweifeln. Doch zunächst wurde eine Generalabsage an alle an der Uni organisierten Gruppen erteilt. Auf keinen Fall wollte der Krisenstab eine Infektionswelle ausgehend vom Gelände am Albertus-Magnus-Platz verschulden. Und keinen Präzedenzfall erschaffen, wenn man einer Gruppe zugesagt hätte.
Ausweichen ins Virtuelle
In der Folge kam unter anderem das Chorleben des Collegium musicum in der bekannten Form komplett zum Erliegen. Natürlich fand man auch hier ab März ins Digitale: Der Kammerchor, ein Ensemble von bis zu 40 fortgeschrittenen Sängern und Sängerinnen, widmete sich virtuellen Projekten. In dem von Universitätsmusikdirektor Michael Ostrzyga entwickelten Stück „Caged“ bilden von Chormitgliedern aufgenommene und gefilmte Haushaltsgeräusche eine Summ-, Knarz- und Brummsymphonie – einen Ausschnitt aus der Johannespassion von Johann Sebastian Bach. Dieses Chorwerk hatte der Chor zuletzt aufgeführt, Anfang März noch.
„Das Stück ‚Mein teurer Heiland‘ ist faszinierenderweise schon so komponiert, dass der Chor aus einer anderen Sphäre kommen soll“, erzählt Komponist Michael Ostrzyga. Das Video, das die Musiker in Kacheln zusammen zeigt, reflektiert so auf einer Metaebene seine Produktion. „Es war natürlich auch eine Hommage an Cage“, so Ostrzyga, „und somit meine erste künstlerische Reflexion auf die Situation. Die Resonanzen und Erinnerungen vergangener Musik hallen nach und die Sänger sind Zeitzeugen – so entstand im Grunde eine Zeitkapsel.“
Hoher organisatorischer Aufwand
Ein paar weitere Videos nahm der Chor auf diese Art und Weise auf: Die Proben erfolgten über Zoom, doch gemeinsam Singen kann man über diese Verbindung nicht. Jeder musste umso genauer allein üben, unterstützt durch Stimmbildungssessions mit der Sopranistin Corinna Kaiser. Ein jeder baute einen kleinen Turm auf dem Tisch, um sein Porträt beim Singen zu filmen, der Ton wurde ebenfalls mit dem Handy aufgezeichnet. Der aufwändigen Zusammenstellung dieser Ton- und Bildaufnahmen widmeten sich gleich mehrere Mitarbeiter des Collegium musicum.
„Der Aufwand für diese Projekte ist vergleichsweise sehr hoch“, bekennt Ostrzyga, „höher sogar als für ein übliches Konzert. Einfach, weil wir noch keine Infrastruktur dafür haben – jetzt wurde extra ein neuer Arbeitsspeicher für das Schneiden angeschafft. Man muss sich dazu vorstellen, dass ja 50 Videos in den Kacheln simultan laufen.“ Der Pianist spricht von dem aktuell aufgenommenen festlichen Stück „Fürchtet euch nicht“ von Johann Michael Bach, in dem die Choristen gleich doppelt auftreten: Jeder sang zwei Chöre ein, um mit sich selbst in Dialog zu treten. Kurz vor Weihnachten wird dieses Video erscheinen.
Weihnachtssingen
Am 22. Dezember, um 19 Uhr, ist sogar ein Mitsingkonzert geplant, ein YouTube-Stream, in den sich jeder einklinken kann. Zwischen bekannten Weihnachtsliedern, bei denen der Text eingeblendet wird, treten auch Sänger auf und geben Stücke zum Besten. Michael Ostrzyga spielt ein Klavierstück ein und sitzt auch mal an der Orgel zur Begleitung. Dazu wird live moderiert. „Dieses Jahr wird es also recht klein von der Besetzung her“, so Ostrzyga. „Durch die Kontaktbeschränkungen dürfen wir nicht in einem Raum sein.“ Kaum zu vergleichen mit dem Konzert 2019, bei dem die Aula vor Ensembles und singfreudigem Publikum aus allen Nähten platzte.
Das gemeinsame Musizieren, das Hinarbeiten auf einen Auftritt, die Resonanz des Publikums – diese Dinge fehlen stark bei den Online-Formaten, wie sie im Lockdown ausschließlich möglich sind. „Viele von uns Musikern sind in eine Identitätskrise geraten oder geraten erneut in eine“, bestätigt Ostrzyga. „Die Gemeinschaft und das Feedback fielen weg; normalerweise sind Musikalisches und Soziales ja verbunden. So wurde man im März erzwungenermaßen zum Eremiten. Wir können ja alle allein proben und spielen – aber wir brauchen das Miteinander! Und die Sinngebung erfolgt mit Blick auf ein Ziel.“
Nicht nur die Musiker selbst sind davon betroffen, auch dem Publikum fehlt der kulturelle „Ausgleich“. Sehen und gesehen werden, innerlich in Bewegung kommen, sich auch aufwühlen lassen. „Das kann eigentlich nicht ersetzt werden“, meint Ostrzyga. Interessant seien die virtuellen Projekte dennoch – unter den Aspekten der Intermedialität und der Zusammenarbeit mit internationalen und nationalen anderen Künstlern. Chorleiter Ostrzyga holte zur Erweiterung des Zoom-Programms um musikalische Bildung zum Beispiel den amerikanischen Cembalospieler Jonathan Salzedo mit ins Boot.
Ein Blick aufs neue Jahr
„Das begreife ich als Chance“, so Ostrzyga, „mit jemandem, den ich sehr mag, der aber am anderen Ende des Planeten lebt, zusammenzuarbeiten. Außerdem planen wir für Januar bis März ein interdisziplinäres Projekt mit Musik, Podcasts, Gastbeiträgen von Historikern und Philosophen und vielen anderen Formaten im Internet. Daraus soll dann eine Playlist entstehen, quasi unter einem Dach. Wir denken über den ‚Totentanz‘ als Thema nach.“ Sehr nah am Tabu, doch durchaus eine historische Verarbeitung der Pest und somit im Umgang mit Seuchen wieder hochaktuell.
„Vielleicht ist das ein zu sensibles Thema“, gibt Ostrzyga zu bedenken, „doch Philosophen könnten das schon ganz gut einordnen.“
Das Sommersemester wird hoffnungsvoll geplant für Bedingungen, wie wir sie in diesem Sommer hatten. 2020 hatte es bis Ende des Sommers gedauert, mit der Uni Hygienekonzepte zu erarbeiten und dann noch geeignete Räumlichkeiten zu finden. Im Musiksaal ist die Belüftung derart problematisch, dass dieser sonst von den Ensembles genutzte Raum leer steht. Gartenproben sind eine auch getestete Option: „Aber mir ist sehr klar geworden, dass ein Chor sich mit den äußeren Umständen wohlfühlen muss“, so Ostrzyga. „Man braucht eine Grundwärme, Stille und ein Dach über dem Kopf.“
Ab dem Sommersemester 2021 kann dies hoffentlich wieder gewährleistet werden. Voraussichtlich in kleineren Besetzungen werden Chor und Orchester dann proben können. Und Michael Ostrzyga bleibt optimistisch: „Sollte es wider Erwarten auch möglich sein, größere Gruppen zusammenkommen zu lassen, lässt sich das ja leicht ausbauen.“ Man freut sich jetzt schon darauf, wenn auch mit Abständen, wieder einem Live-Konzert „in Präsenz“ beizuwohnen. Gerne in der strahlenden Sonne.
Collegium musicum der Universität zu Köln: Weihnachtssingen | Di 22.12. 19 Uhr | Live-Stream: YouTube | collmus.uni-koeln.de
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