Ist das Glück ein Vogel, der sich mal hier und mal dort niederlässt, wie ein österreichisches Sprichwort behauptet? Ist das Glück also dem Zufall geschuldet? Man könnte es glauben, wenn man die Geschichte von Katharina und Max gehört hat, wie sie Martin Mandler in seinem Roman „Kleiner Vogel Glück“ gleich im ersten Kapitel erzählt. Der glücklichste Tag im Leben der Katharina, das sei der Tag gewesen, an dem sie in Tirol auf einem Felssteig dem Max begegnet sei, erklärt sie selbst. Der zweitglücklichste Tag war dann ihr Hochzeitstag, wie sie gerade noch verkünden kann, bevor ihr geliebter Max sie betrunken am Steuer gegen einen Baum fährt.
Martin Mandler erzählt auf den knapp 180 Seiten seines Romans von vielen Schicksalen aus der Welt Tirols, die alle eingebunden sind die Begegnung von Hans und Giovanni. Die beiden Namen deuten es schon an, hier dreht es sich um zwei, die eigentlich eins sind. Tirol wurde nach dem Ersten Weltkrieg in den nördlichen österreichischen und den südlichen italienischen Teil gespalten. Hans und Giovanni treffen während des Krieges in einer dramatischen Situation an der Gebirgsfront zusammen. Weil Giovanni umsichtig handelt, ist Hans noch ein langes Leben vergönnt.
Neben den wunderbaren Geschichten ist es vor allem der Erzählton von Martin Mandler, der einen gleich mit den ersten Sätzen packt und bis zum Schluss nicht mehr frei gibt. Als säße er am Küchentisch und erzählte uns frisch und erlebnissatt vom Geschick der Menschen und den historischen Ereignissen (deren braune Gehalte er im Übrigen nicht verschweigt). Diesen Tonfall des oralen Erzählens beherrscht Mandler in Perfektion. Da werden Sätze umgestellt, so als würde kurz zurück rangiert – oder es verliert sich der Erzähler in Details, die wie Schrauben in die Handlung eingedreht werden. Obwohl die Struktur komplex angelegt ist, kommt diese Prosa fließend daher. In die Lebensgeschichte von Hans werden Zwischenkapitel eingelassen, sodass sich dieser schmale Roman wie ein Panorama Tirols ausnimmt, das als Herzstück Europas die Umwälzung des 20. Jahrhunderts erleiden musste. Es ist diese herrliche Erzähllust von Martin Mandler, die einen neugierig auf den Fortgang der Geschehnisse harren lässt.
Martin Mandler: Kleiner Vogel Glück | Elsinor Verlag | 188 Seiten | 19 Euro
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