„Das Lied der von Neil Young Getöteten“ (2002, aktuell bei Suhrkamp) ist der verleumderische Titel des ersten Romans Navid Kermanis gewesen, der dem US-kanadischen Liedermacher in Wirklichkeit einiges verdankt. So beschreibt das erzählerische Frühwerk des Kölner Schriftstellers und Orientalisten, dessen autobiografische Natur er heute einräumt, wie sich Youngs Liedgut als heilsamer Klangteppich über sein Leben als überforderter junger Vater einer Tochter legte.
„Zwei, drei Wochen auf der Welt – Blähungen“, erklärt Kermani in der Comedia, bevor er das Buch öffnet. „Diejenigen unter ihnen, die schonmal eigene Kinder unter Blähungen haben leiden sehen, wissen, wie sich das anfühlt, jedenfalls für die Eltern; wie es ist, wenn das eigene Kind bis in die Fingerspitzen vor Schmerz aufkreischt. Natürlich waren wir völlig hilflos und versuchten alles, was die Hebammen und Nachbarn sagten. Wie ich das kleine Mädchen da so durch das Arbeitszimmer trug und überhaupt nicht mehr weiter wusste und Gott anklagte ob dieser Unverschämtheit, ein Menschenwesen so zu begrüßen auf Erden, tippte ich mehr oder weniger zufällig auf den CD-Player, und mehr oder weniger nicht zufällig war in dem CD-Player eine Platte von Neil Young und das Mädchen war sofort ruhig. Das Lied war 17 Minuten lang, ‚Last Trip to Tulsa‘, das Lied war zu Ende, das Mädchen fing an zu plärren.“ Das Publikum im gut besuchten Roten Saal lacht herzlich, der Funke springt über. „Ich tippte wieder an, es war wieder ruhig, das Lied war wieder zu Ende, es fing wieder an zu weinen. Ahnen Sie, was ich drei Monate lang getan habe?“
Kermani, der anderswo sagte, Young seit „Rust Never Sleeps“ gern gehört zu haben, vor allem in Zusammenarbeit mit der Band Crazy Horse, schildert in seinem Buch diese Zeit, in der auch sein Vater im Krankenhaus lag. Dabei geht es viel um den „Kosmos von Neil Young“, durch den die junge Familie sich durchhörte, „aber nicht die Songs, die dem Vater wichtig sind, sondern die Songs, auf die die Tochter reagiert“. Auch später hat Kermani immer wieder über Neil Young geschrieben, der seine Bücher „begleitet“ habe und selbst in dem über das Christentum seinen Platz gefunden habe.
Doch es war ein Abend mit Songbeispielen. Das Publikum, das nicht wie der versammelte Neil-Young-Fanclub aussah, sondern mehr, als sei es für den Autoren Kermani oder die nachfolgende Lesung mit Thrillerautorin Melanie Raabe gekommen, wurde nun ausgerechnet mit einem Ausschnitt aus dem „Arc“-Album, einem Gewitter aus Instrumenten und Live-Feedbacks, daran erinnert, wer dieser Paul oder Neil Young überhaupt nochmal ist. Zu dieser Kuriosität unter den Nebenwerken, auf die Young (man glaubt es gern) stolz sei, präsentierte Kermani unter Berufung auf Mystiker eingehende Überlegungen, wie der recht formlose Lärm, den er über die Jahre mehrfach durchgehört habe, eigentlich schon wieder einer Stille gleichkäme. Desweiteren waren je zwei Ausschnitte aus „Even Richard Nixon Has Got Soul“ (1976) und, zu einem aktuelleren Kommentar, „Walk Like a Giant“ (2012) zu hören.
Die Boxen des Theaters wussten zu überzeugen, da kann man seine Kopfhörer wegschmeißen. Kermani wirkte, wie es sich für einen Schriftsteller gehört, scheu und blickte nicht vom Papier auf, außer um zu schauen, ob noch jemand da ist, oder um dem Tontechniker ein Zeichen zu geben, dass die Musik ruhig lauter sein darf. Für eine Hommage an Neil Young ist nie der falsche Zeitpunkt, warum aber Kermani in letzter Zeit wieder sein Erstlingswerk in die Öffentlichkeit trägt, bleibt unbekannt, wenn es auch für ihn offenbar viele wertvolle Erinnerungen enthält. Die Tochter ist erwachsen, Neil Young bringt weiter Platten heraus, und Kermani trauert wie wir alle ein wenig Crazy Horse hinterher.
Nun war ich überhaupt nur wegen einer zeitlichen Fehlkalkulation in die Comedia-Veranstaltung statt zu Erasmus Schöfer gegangen, weiter geriet der Takt durcheinander, als der verspätet beginnende Kermani – bestimmt nicht seine Schuld – die allgemein vorgesehenen „circa 40 Minuten“ um circa 10 Minuten überzog. (Tatsächlich blieben die meisten Zuschauer für die nächste Veranstaltung, mussten aber für technische Vorbereitungen den Saal verlassen.) Also schnell noch ins Programm schauen, ab durch den Nieselregen in den Anderen Buchladen am Ubierring, wo um 20 Uhr Guy Helminger und Andreas Rossmann, seines Zeichens ehemaliger Kulturkorrespondent der FAZ in NRW, aufeinandertrafen und gastfreundliches Personal sich um die zuletzt oder zu spät eintreffenden Besucher kümmerte. „Lob des Umwegs“ ist dort das Motto des Abends; an den Fenstern hängen Arbeiten einer Fotografin, die Rimini außerhalb der Saison zeigen.
Die beiden saßen sich das erste Mal gegenüber. In der ersten Dreiviertelstunde war Rossmann an der Reihe, sich von Helminger über sein Buch „Mit dem Rücken zum Meer. Aus einem sizilianischen Tagebuch“ (Walther König, 2018) befragen zu lassen. Helminger zeigte sich von einem recht journalistisch gehaltenen Werk angetan, das viele Klischees über Sizilien bestätige, aber dabei auf „das Original des Klischees“ zurückführe. „Es kommt sehr viel Kulturgeschichte mit hinein, es gibt auch viel Historisches, aber es ist natürlich trotzdem immer ein Link da zu der heutigen Zeit, also wie das überlebt hat, zum Beispiel“, lobte er.
Rossmann dazu: „Sizilien ist ja kein Terra incognita gewesen. Es gibt wenige Länder, die so sehr von Deutschen bereist wurden wie Italien. Nicht nur von deutschen Autoren, sondern die Grand Tour war sozusagen Teil der Erziehung, der Ausbildung. Nicht alle haben es bis Sizilien geschafft, Goethe ist da eher eine Ausnahme, das gilt natürlich auch für Maler und später für Fotografen. Insofern konnte ich natürlich nicht so tun, als wäre ich der erste, der sich da umschaut. Aber es ist andererseits so, dass die deutschen Schriftsteller – also das wird dann vielleicht anders nach dem Zweiten Weltkrieg – sich eigentlich immer nur für das alte Sizilien interessiert haben, immer nur für die große Kunst, für die griechischen Tempel und Theater, für die normannischen Dome, vielleicht auch für Hinterlassenschaften der Araber – nicht so zahlreich – oder auch der Spanier, aber nicht so sehr für den Alltag, für die Gegenwart, in der sie sich selbst bewegt haben, und dafür eher so eine Art Verachtung hatten oder das eben mit in Kauf nahmen. Ich bin da nicht hingefahren, um ein Buch zu schreiben, aber mir fiel dann doch auf, dass es keinen Sinn macht, den 31. Kunstreiseführer für Sizilien zu schreiben, weil das gibt es schon sehr gut und sehr viele, aber dass man relativ wenig lesen kann über das, was man da so im Alltag erleben kann. Gleichzeitig konnte ich aber auch von meinen Lektüren nicht absehen.“ Er zitiert Goethe: „Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem.“ Diese bekannte Äußerung könne man „nicht auf Anhieb knacken“, es gebe unterschiedliche Interpretationen.
Themen bei ihm sind unter anderem die Mafia, Korruption und die Flüchtlingskrise, von der man wenig merke, wozu er sich aber bei den Menschen erkundigte. Dass Sizilien bei der Globalisierung etwas außen vor stünde als eine „antimoderne Reserve“ macht er am Beispiel der Architektur fest: „Es gibt in Sizilien eigentlich keine herausragenden Bauwerke der modernen Architektur.“ Stattdessen „leidet Sizilien an seinem Reichtum“. Es gebe so viele alte Palazzi, „dass die gar nicht nachkommen, alle zu sanieren, und auch gar nicht die Mittel dafür haben“.
In der Maternus-Buchhandlung in der Severinstraße begann um 21 Uhr zum zweiten Mal an diesem Abend Julia Trompeter aus ihrem im Februar bei Schöffling & Co. erschienen Roman „Frühling in Utrecht“ zu lesen (gesprochen: Ütrecht). Darin geht es um Klara, eine junge Berlinerin, die sich ohne weitere Vorbereitungen in eine neue Stadt und Kultur flüchtet und ihre Erlebnisse in einem Tagebuch festhält. Der Leser lernt die holländische Kleinstadt durch ihre Augen, durch ihr Erlebnis der „feinen Unterschiede“ kennen.
„Ihr Hauptmotiv ist die Flucht aus Berlin weg“, erklärt Trompeter im Gespräch mit Gerrit Völker, „raus aus der Beziehung, raus aus ihrem Leben, das irgendwie gestrandet ist. Sie ist eigentlich studiert und hat dort eine Kneipe betrieben, und das ist ganz abrupt ‚in die Luft geflogen‘, könnte man sagen. Sie geht nach Utrecht, eigentlich zufällig, weil sie einfach die Sterne sucht, aber auch nicht zu weit weg will – es ist gar kein so klares Ziel von ihr.“
Es ginge dann für die alles niederschreibende Klara darum „Freiheit auszuhalten“, so Trompeter. Sie merke, dass „Freiheit ein aktiver Zustand ist, und dass man nicht nur von etwas sich befreien kann, sondern dass Freiheit auch etwas ist, das man zu einer Situation empfinden muss, und dass man den Frei-Raum selber irgendwie gestalten muss, um nicht ganz in den Unsicherheiten verloren zu gehen. Das Schreiben ist auch ein Weg, mit den Unsicherheiten umzugehen.“ Trompeter selbst ist als Postdoktorandin an der Universität Utrecht. Sie liest sehr korrekt und angenehm aus drei Kapiteln und blickt bei jedem Satz kurz auf, abschließend wird ein wenig signiert, bevor Autorin und Personal mit eiligen Schritten zu einer Veranstaltung oder der Abschlussparty in der Comedia aufbrechen. Es herrscht Erleichterung: Der Abend ist für die Buchhandlung gut gelaufen. Während die Buchhändler sich wundern, dass das Publikum bei den beiden Lesungen an anderen Stellen gelacht habe, sind solche Unterschiede für Trompeter keineswegs neu.
Das Ziel des Vereins Literaturszene Köln, „das literarische Leben der Stadt sichtbarer zu machen“, scheint mit dieser einfallsreichen und von vielen mitgetragenen Literaturnacht vollumfänglich geglückt zu sein. Überraschenderweise schien es auch mit den Plätzen gut zu klappen: Die eine oder andere Veranstaltung in kleinen Räumen war zwar überlaufen, aber auch dann gab es entweder Stehplätze oder Ausweichmöglichkeiten in der Nähe. Sicher ging es vielen so, dass nicht alles nach Plan verlief und dabei vielleicht auch gänzlich Neues entdeckt wurde. Die Buchhandlungen konnten Bücher verkaufen, vieles wurde signiert, und alle Autoren erhielten – was wohl leider nicht ganz selbstverständlich ist – Honorare. Wenn der Verein bei seiner Auswertung also positiv Bilanz zieht, ist eine zweite Literaturnacht möglich, die allerdings zunächst mit Hilfe der Stadt finanziert werden muss.
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