Wird Geld in naher Zukunft verschwinden? Immerhin kennen Apps schon heute unsere Wünsche besser als wir selbst. Aus den ständig gesammelten Daten geht hervor, was ein Kunde will. Mit den entsprechenden Algorithmen lässt sich ziemlich gut berechnen, wie viel Kunde X bereit ist für Produkt Y auszugeben. Der Preis, der in der klassischen Markttheorie als wichtige Information das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage abbildet, verlöre seine Bedeutung. Und mit ihm das Geld, durch das der Preis ausgedrückt wird. Die Verteilung von Waren und Dienstleistungen in einem informationsgestützten Warendistributionssystem fände genauso über Algorithmen statt, wie es beim Matching in den sozialen Netzwerken läuft. Dort werden wir ja auch gezielt mit den zu unserem Profil passenden (Des-)Informationen versorgt (vgl. Interview auf der folgenden Seite).
Verblüffend wäre an einer Entwicklung zur geldlosen Gesellschaft zunächst, dass die Menschheit an den virtuellen Anfang des Geldes zurückkehren würde. Denn anders als die klassische Wirtschaftswissenschaft bis heute recht unhistorisch mit Adam Smith behauptet, ist Geld nicht als universelles Tauschmedium einer Gesellschaft entstanden, die sich immer arbeitsteiliger organisierte. Anthropologische Untersuchungen haben gezeigt, dass die ersten schriftlichen Aufzeichnungen von Geld auf mesopotamischen Tontäfelchen Schuldverschreibungen waren, also virtuelles Geld. In Tempeln wurde notiert, dass jemand die Schuld, die er mit dem Erwerb einer Ware eingegangen war, später auf irgendeine Weise erstatten würde.
Die Transformation in eine geldlose Gesellschaft birgt vor allem Konfliktpotenzial. Denn Geld würde als Wertspeicher wegfallen. Zwar hätten nur wenige wirklich viel zu verlieren. Doch es wären die Mächtigsten, die Superreichen, deren Reichtümer bekanntlich die Schulden der Vielen sind. Werden Waren aber nicht mehr über Geld verteilt, verliert der angehäufte Reichtum seinen Wert. Wer nun glaubt, die Abschaffung des Geldes führe in die Verteilungsgerechtigkeit, gibt sich Illusionen hin und übersieht den Zusammenhang von Geld und Schuld.
Besitzende haben zudem noch nie etwas kampflos aufgegeben. Die Mächtigen würden in einer geldlosen Gesellschaft weiterhin auf die Durchsetzung der gehaltenen Schuldverschreibungen bestehen. Hilfe bei der Durchsetzung könnten sie vom Staat erwarten, der in seiner bürgerlich-westlichen Verfasstheit Eigentum eigentümlich hoch bewertet. Amerikaner oder Griechen, die vor zehn Jahren als Arbeiter und Hausbesitzer noch zum Mittelstand gehörten, stehen heute entlassen und geräumt auf der Straße, während der Staat auf ihre Kosten Banken mit absurd hohen, steuerfinanzierten Hilfspaketen entschuldete.
Als Großbritannien mit dem „Slave Abolition Act“ 1833 übrigens die Sklaverei abschaffte, wurden die ehemaligen Sklavenbesitzer mit einem steuerfinanzierten Rettungspaket in Höhe von 20 Millionen Pfund (heute rund 23 Milliarden) kompensiert. Wieso sollte es beim Übergang in die geldlose Gesellschaft nicht genau andersherum laufen? Wäre es abwegig, wenn die Verluste der Wenigen durch Schuld- und Frondienste der immer zahlreicheren Habenichtse kompensiert würde? Wie sollten die Waren, die über die Matchings zugeteilt werden, sonst bezahlt werden?
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