Im März musste der ukrainische Regisseur Andriy May in Folge der russischen Okkupation seine Heimatstadt Cherson verlassen. Kurz darauf reiste er als Gast eines Residenzprogramms nach Deutschland – zusammen mit seinem achtjährigen Sohn und seiner Mutter, um die er sich kümmert. In Potsdam hat er ein Projekt mit ukrainischen Jugendlichen realisiert. Bevor er im November in Kiew das von ihm gegründete Festival „Woche des aktuellen Theaterstücks“ eröffnet, entwickelt er am Theater der Keller das Stück „PutinProzess“.
choices: Herr May, das Stück, dass Sie hier inszenieren, trägt den Titel „PutinProzess“: Was ist mit dem Namen „Putin“ gemeint: Die reale Person Wladimir Putin oder eher ein Prinzip?
Andriy May: Als mich das Theater der Keller eingeladen hat, eine Produktion hier zu realisieren, und mich gefragt hat, was mich interessiert, habe ich gesagt, ich möchte einen PutinProzess. Es geht allerdings nicht um eine Art Prozess im Sinne der Nürnberger Prozesse. Es ist also kein Tribunal. Es geht um einen Prozess im Sinne einer Entwicklung und um unseren Anteil an diesem Prozess? Wladimir Putin als Person ist für mich völlig uninteressant, er ist sehr einfach gestrickt. Und es geht auch nicht darum zu zeigen, dass er ein Terrorist oder Russland ein terroristisches Land ist. Das wissen die Menschen bereits. Was sie nicht wissen, ist, welchen privaten Beitrag sie selbst dazu geleistet haben, sei es hier in Deutschland, sei es in der Ukraine, sei es in Russland. Das ist nicht das Ergebnis von ein paar Monaten, sondern hat sich in allen drei Ländern über die letzten Jahrzehnte entwickelt. Es geht also nicht um Fragen der Energiekrise heute oder so etwas, sondern wie sich die Entwicklung dieser Jahrzehnte im privaten Leben unserer deutschen und ukrainischen Schauspieler:innen niedergeschlagen hat.
Können Sie kurz ein wenig den unterschiedlichen Ausgangspunkt des Ensembles beschreiben?
Zunächst haben wir alle eine völlig unterschiedliche Geschichte. Tetiana Zegura und Oleksii Dorychevskyi kommen aus Kiew, Timon Ballenberger stammt aus Norddeutschland. Und schon diese Tatsache schafft völlig unterschiedliche Ausgangspunkte für das Verständnis dieses Prozesses. Unsere jungen Schauspieler:innen wurden geboren, als die Sowjetunion am Ende war. Ich dagegen kam noch in der Sowjetunion zur Welt, habe dort die Schule besucht. Meine Familie hatte immer Probleme mit der kommunistischen Partei, mein Großvater wurde nach Sibirien verbannt usw. All das ist Teil meines Lebens. Das meine ich mit der Frage, was dieser Prozess in meinem eigenen Leben bedeutet. Darin liegt auch ein Grund, warum ich meine eigene Geschichte in den Probenprozess mit eingebracht habe. Alle unsere Familien haben ein Problem mit dem sowjetischen System gehabt, mit der Sprache, mit der Identität.
Und der deutsche Schauspieler Timon Ballenberger?
Er wurde in Westdeutschland geboren und hat eine ganz andere Erfahrung von Freiheit als die ukrainischen Kolleg:innen, die in der postsowjetischen Zeit aufgewachsen sind. Er weiß natürlich auch, dass die Sowjetunion nicht Russland ist. Die Sowjetunion, das waren 15 unterschiedliche Länder mit völlig verschiedenen Kulturen. Als ich vor zwanzig Jahren das erste Mal in Deutschland war und sagte, dass ich aus der Ukraine komme, fragte man mich: „Ukraine? Was ist das?“ Wenn ich dann sagte Kiew, bekam ich als Antwort: „Ach so, Kiew in Russland.“ Und das gehört auch zu diesem Prozess. Und auch heute noch denken einige Deutsche über den Krieg zwischen der Ukraine und Russland, dass das doch ein Land mit einer gemeinsamen Sprache sei und es wahrscheinlich nur um einen Bürgerkrieg geht. Es geht im PutinProzess auch darum, was die Ukraine überhaupt für ein Land ist.
Sie arbeiten in Ihren Inszenierungen sehr oft mit dokumentarischem Material. Wie kommt das bei „PutinProzess“ zum Einsatz?
Ich arbeite seit zehn Jahren mit dokumentarischem Material in meinen Stücken. Hauptsächlich benutzen wir das Material der Schauspieler:innen unseres deutsch-ukrainischen Ensembles und auch meiner eigenen Geschichte in der Ukraine. Aber selbstverständlich spielen auch historische Aspekte eine Rolle wie die kurze Zeit der Selbstständigkeit meines Landes kurz nach der Oktoberrevolution 1917, danach standen wir dann unter sowjetischer Herrschaft wie auch ein Teil Deutschlands. Die Dramaturgin Ulrike Janssen vom Theater der Keller und ich haben ganz verschiedene Erfahrungshorizonte. Daraus ergeben sich sehr interessante und intensive Gespräche, die diesen Prozess gestalten.
Wie beeinflusst das das Spiel?
Für mich spielt der Körper eine wichtige Rolle. Immer wenn ich über den PutinProzess nachgedacht habe, habe ich an den Körper gedacht. Nicht in einem metaphorischen Sinn, eher in der Art, was würde mit meinem Körper passieren, wenn er ein Land wäre oder ein Volk. Was fühlt ein Körper, wenn wir an den Krieg denken, wenn wir an uns selbst oder an die Zukunft denken. Ich habe den Choreographen Viktor Ruban eingeladen, einen sehr bekannten ukrainischen Choreographen für zeitgenössischen Tanz. Er wird nach Köln kommen und mit uns arbeiten. Auch die Kostümbildnerin Katya Markush und der Videokünstler Yevhen Yakshin werden mit Hilfe von Residenzprogrammen des Goethe-Instituts als Gäste des Theaters der Keller dabei sein. Dass wir alle hier in Köln zusammenarbeiten können, gibt uns die Chance, diesen Prozess künstlerisch wahrzunehmen und zu bearbeiten.
Es geht also letztlich auch darum, wie ich mich selbst verorte?
Es ist selbstverständlich ein Stück mit einem politischen Thema, aber es geht auch um eine Selbstvergewisserung, was dieser Prozess in Leben von jedem von uns bedeutet. Selbstverständlich auch für jede/n im Publikum. Wo ist deine Position in der ganzen Geschichte? Was ist dir wichtig? Es geht nicht darum, was richtig und was falsch ist. Es geht darum, wo ich mich in der ganzen großen Geschichte eigentlich verorte, wo mein Platz ist.
Und wo ist Ihr Platz, wie haben Sie bisher den Krieg erlebt?
Ich bin alleinerziehender Vater. Meine Frau ist vor drei Jahren an Krebs gestorben. Und ich bin mit meinem achtjährigen Sohn und meiner 65-jährigen Mutter nach Deutschland gekommen. Ich habe zuvor mehrere Stadttheater in der Ukraine geleitet. Die letzten beiden Jahre war ich in Cherson, das jetzt von der russischen Armee besetzt ist. Ich habe dort mit meinem Sohn und meiner Mutter drei Wochen lang im Bunker verbracht, als die Stadt bombardiert wurde. Ein befreundeter Dirigent in Cherson wurde von der russischen Armee umgebracht, weil er nicht mit einem russischen Orchester oder dem Militär zusammenarbeiten wollte. Ich habe verstanden, wie dieses militärische System funktioniert, wenn sie plötzlich in dein Haus kommen und von dir Kollaboration verlangen. Für die Menschen in Deutschland heute ist es nicht möglich, das zu verstehen. Es ist gut, dass hier in Deutschland Frieden herrscht. Aber wenn wir über Realität reden, über die Realität in der Ukraine nach achtzig Jahren sowjetischer Besetzung, prorussischer Regierungen und militärischer Okkupation, dann ist es etwas anderes.
PutinProzess | Theater der Keller | 18., 19.11. | 0221 31 80 59
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