Die Stadt Itsuchi ist verschwunden. Nur der Friedhof ist von ihr übrig geblieben. Die Grabsteine auf den Anhöhen wirken wie Menschen, die fassungslos auf das Ufer und den ehemaligen Hafen hinabschauen, der vom Tsunami vollkommen zerstört wurde. Hans-Christian Schink hat die Provinz Tohoku fotografiert, die auf verheerende Weise von der Katastrophe im März 2011 heimgesucht wurde. Seine Bilder zeigen leergefegte Landschaften, keine Menschen, keine Häuser, keine Natur. Eine Welt, so wüst und leer, wie sie in den biblischen Prophezeiungen des Weltuntergangs beschrieben wurde.
Und doch geht eine eigenartige Faszinationskraft von diesen Bildern aus, die derzeit im Forum für Fotografie in Köln zu sehen sind. Man hat sich für eine klare, unprätentiöse Hängung der großen Formate entschieden, die den Betrachter in eine Haltung andächtiger Konzentration versetzen. Hier ist etwas Furchtbares geschehen, davon kündet vor allem die Stille, die von diesen Bildern ausgeht. Menschliche Gestalten sind nur vereinzelt zu sehen. Häuser stehen auf dem Dach, oder wurden wie Hutschachteln übereinander geschoben, oft ist es nur die Grundfläche eines ehemaligen Häuserblocks, die noch davon kündet, dass hier einmal geschäftiges Stadtleben herrschte.
Schink gelingt etwas, das nur wenige europäische Fotografen vermögen, er zieht sich nicht auf die Perspektive des fremden Beobachters zurück, noch versucht er den japanischen Blick zu imitieren. Dennoch besitzen seine Fotografien in der respektvollen Ruhe, mit der sie ihr Sujet ins Auge fassen, eine Nähe zur japanischen Bildästhetik. Der 1961 in Erfurt geborene Schink entwickelte diesen Blick schon bevor er nach Japan kam. Sein Fotobuch „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“ konstatiert mit trockener Beiläufigkeit Szenen der funkelnagelneuen Verkehrsadern im Osten Deutschlands. Fassungslos steht man vor der wuchtigen Bedenkenlosigkeit, mit der Landschaften von der Realität des Straßenbaus dominiert werden. Auch hier ist die Kraft einer namenlose Macht spürbar, die das Gesicht einer Landschaft auszuradieren vermag.
Schink feiert nicht die Schönheit der Zerstörung, er setzt vielmehr unsere Imagination in Gang, so dass wir uns vorzustellen beginnen, was im Zuge der Katastrophe geschehen sein mag, die fast 20.000 Menschen in den Tod riss. Und er verharrt nicht in der Beschwörung des Unglücks, denn jedes der Bilder stellt latent die Frage, was nach dem totalen Zusammenbruch geschieht. Denn selbst das Unvorstellbare vermag nicht die Zeit zum Stillstand zu bringen. Schink hält uns zum Schauen an, seine Bilder, die ein Jahr nach der Katastrophe entstanden, stellen eine Zäsur dar. Schon heute besitzen sie eine historische Dimension. Auch deshalb fällt es schwer, sich von ihnen zu lösen, der Sog der Katastrophe hält immer noch an.
„Tōhoku“ | bis 6.4., Mi-Fr 14-18 Uhr, Sa 12-18 Uhr, So 12-16 Uhr | Forum für Fotografie | Schönhauser Str. 8
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