Das Festival Impulse feiert seinen zwanzigsten Geburtstag. 1990 wurde es vom damaligen Leiter des Kultursekretariats NRW Dietmar N. Schmidt als Plattform der freien Szene gegründet. Anfangs belächelt und mit finanziellen Ausblutungsattacken drangsaliert, hat es sich gegen alle Widerstände durchgesetzt. Mehr noch. Wer die Liste der Teilnehmer seit der Gründung durchsieht, muss den Impulse-Machern und ihren Jurys einen untrüglichen Riecher für neue Trends attestieren, die dann vom Stadttheater als Bluttransfusion gierig aufgesogen wurden. Das gilt nicht zuletzt für das seit 2007 amtierende Duo Matthias von Hartz und Tom Stromberg, die die Internationalisierung des Festivals vorangetrieben haben. Erstmals seit Jahren finden die Impulse nun im Sommer statt.
choices: Herr von Hartz, inzwischen strömen Namen wie René Pollesch, Rimini Protokoll oder She She Pop das Flair von Tradition aus. Gibt es so etwas wie eine Klassizität der freien Szene?
Matthias von Hartz: Es gibt eine der Theaterstruktur geschuldete Klassizität, die lautet: Gruppen bleiben in der freien Szene, weil das Stadttheater es nicht schafft, ihnen eine Heimat zu geben. Es gibt auch eine Klassizität im Umgang mit ästhetischen Mitteln, die etwas mit anderen Medien zu tun hat. Man verfügt über diese Mittel so sicher, dass man sich traut weiter zu gehen. She She Pop ist mit „Testament“ nach langem Feilen an der Arbeitsweise und Einflüssen anderer Künstler jetzt eine ganz neue Arbeit gelungen. Der Abend ist eine wunderbare Verbindung aus dem „König Lear“-Thema, der Frage nach der eigenen Existenz als Künstler, dem Überleben in diesem Theatersystem und den Erwartungen der Generationen aneinander. Die Schauspieler holen ihre eigenen Väter auf die Bühne und mit diesem dokumentarischen Moment treiben sie die Arbeit mit der eigenen Autobiographie weiter.
Die meisten Gruppen im Impulse-Programm überschreiten die Grenzen der Sparten völlig selbstverständlich. Inwieweit ist das Crossover ästhetischer Alltag?
Das Theater ist ein absterbendes Medium und es ist dringend nötig, die Grenzen auszuloten, um zu sehen, wie es weitergehen könnte. Die Gruppe Berlin besteht aus Dokumentarfilmern, die in ihrer Produktion „Tagfish“ mit dokumentarischem Material eine szenische Situation herstellen. HGich.T dagegen veranstaltet in „Endzeit 2“ einen wilden Punkabend. Die Mitglieder der Truppe kommen aus der Bildenden Kunst und sind im Internet als Band berühmt. Während der Show malen sie Bilder, die dann zusammen mit Kleidungsstücken und Windeln versteigert werden. Das ist der energetischste Abend, den ich in den letzten Jahren gesehen habe. Vor kurzem war ich auf der Biennale in Venedig. Im Belgischen Pavillon war Theater zu sehen, der spanische zeigte eine Aneinanderreihung von perfomativen Momenten. Die Durchlässigkeit von multimedialen Arbeiten von Theater Richtung Kunst ist offenbar viel größer als umgekehrt. Wenn das in die Institutionen schwappen würde, wäre dem Theater sehr geholfen.
Wenn es nur noch Crossover-Produktionen gibt, sollte man da das Festival nicht für alle Sparten öffnen? Wie schwierig ist es, eine programmatische Balance zu halten?
Wir versuchen, erst mal im Kerngebiet zu gucken. Dann entdeckt die Jury plötzlich Andros Zins-Brownes Cowboy-Abend „The Host“, den man als Tanz, aber auch als Variation über männliche Rollenklischees interpretieren kann. Oder die Produktion von Anna Mendelsohn, auf die ich über mein Interesse an Ökologie und Klimawandel gestoßen bin und die dann auch ästhetisch sehr interessant war. All das ist nicht Ergebnis eines Plans. „Impulse“ ist aber auch ein kulturpolitisches Instrument, mit dem man versucht, das Potential des Mediums abzuklopfen. Die angesprochenen Arbeiten berühren sehr unterschiedliche Grenzen dessen, was man sich unter Theater vorstellt. Zugleich besetzt man damit auch eine Position gegenüber dem Berliner Theatertreffen.
20 Jahre Impulse - wie wichtig war das Festival für die Entwicklung der freien Szene?
Impulse war nicht nur für die Entwicklung der freien Szene, sondern des Theaters überhaupt interessant. Und die Impulse waren aber sehr wichtig für das Selbstverständnis der freien Szene und damit ist die nationale und internationale Koproduktionsszene gemeint, nicht die diversen Privattheater. Der Großteil der ästhetischen Entwicklungen im Theater der letzten 15 Jahre, ob Nicolas Stemann, René Pollesch oder Katie Mitchell, kommt aus der freien Szene. Impulse war dabei immer nur der Sichtbarmacher, der Ritterschlag oder die Plattform, die die mediale Aufmerksamkeit bringt. „Shouting bourbaki“, das 2002 bei Impulse gastierte, war beispielsweise der erste im Theatersystem ernst genommene Erfolg von Rimini Protokoll.
Hat sich an den prekären Produktionsbedingungen der freien Szene etwas geändert?
Es wird auf der Produktionsseite immer schlimmer. Das Geld wird knapper und alles, was frei ist, kann man leichter kürzen als die Institutionen mit ihren Häusern und Arbeitsverträgen. Andererseits hat sich die freie Szene zunehmend internationalisiert, das erhöht zwar die Budgets für die Künstler und schafft andere Produktionsmöglichkeiten, ist aber Ausdruck von weniger Geld. Wir haben in den ersten Jahren internationale Gäste eingeladen, das haben wir dieses Jahr gelassen. Institutet+Nya Rampen zum Beispiel kommen aus Skandinavien, leben in Berlin und produzieren mit Geld aus beiden Ländern. Die Gruppe Berlin wiederum arbeitet in Antwerpen, hat ihr Stück aber in Essen herausgebracht.
Wie wird die deutschsprachige Szene im Ausland wahrgenommen?
Für das Ausland ist das, was wir hier freie Szene nennen, der Normalzustand. Die Off-Produktionen sind für Gastspiele oder Kooperationen viel interessanter als teure Stadttheaterproduktionen. In diesem Jahr sind Kuratoren aus Südafrika, Kanada, Korea oder Tallinn vor Ort. Das Interesse an den Plätzen unseres Kuratorenprogramms ist so groß, dass wir einigen Interessenten absagen mussten. Das hat sich gewaltig verändert.
„Theater Festival Impulse 2011“ I 29.6.-10.7. I Gebäude 9, Hallmackenreuther, Halle Kalk, Schauspiel Köln und studiobühne I Weitere Termine in Bochum, Düsseldorf und Mülheim an der Ruhr I 0221 992 25 51 11
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Mit allen Wassern gewaschen
Franziska Werner wird neue Leiterin des Festivals Impulse – Theater in NRW 07/24
„Brisante politische Inhalte, lustvoll präsentiert“
Leiter Haiko Pfost über das Impulse Theaterfestival 2024 in Köln, Düsseldorf und Mülheim a. d. Ruhr – Premiere 05/24
Auf Tote anstoßen
Das Impulse Theater Festival in NRW und WWW – Festival 06/20
„Es fehlt die Gefahr“
Haiko Pfost über das digitale Impulse Theater Festival – Premiere 06/20
Blind Sex-Date
Mittendrin: Angstraum Köln beim Impulse Theaterfestival – Spezial 06/19
Frisches Brot von der freien Szene
Das Impulse Theater Festival – Bühne 06/19
„Wir können eigentlich nichts mehr dramatisieren“
Haiko Pfost vor seinem zweiten Impulse Theater Festival – Premiere 06/19
Körperlichkeit und Konfrontation
Das Impulse Festival 2018 – Tanz an der Ruhr 06/18
Wer ist Gertraud Stock – und wenn ja, wieviele?
Impulse: „Die Erfindung der Gertraud Stock“ von vorschlag:hammer – Bühne 06/17
Entscheide oder stirb!
Das Impulse Festival in Mülheim, Düsseldorf und Köln – Prolog 06/17
Politisches Theater
… in nationalistischen Zeiten: Festivals im Juni – Prolog 05/17
Fachgerecht zerstückelt
Dreharbeiten von „Germany Year 2071“ zum Finale der PLURIVERSALE IV im Rheinauhafen – Spezial 06/16
„Die Hoffnung muss hart erkämpft werden“
Regisseur Sefa Küskü über „In Liebe“ am Orangerie Theater – Premiere 11/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24
„Wir wollen Rituale kreieren“
Regisseur Daniel Schüßler über „Save the planet – kill yourself“ in Köln – Premiere 09/24
„Draußen geht viel mehr als man denkt“
Schauspielerin Irene Schwarz über „Peer Gynt“ beim NN Theater Freiluftfestival – Premiere 08/24
„Familie ist immer ein Thema“
Regisseur Rafael Sanchez und Dramaturgin Sibylle Dudek über die Spielzeit 2024/25 am Schauspiel Köln – Premiere 07/24
„Wir können nicht immer nur schweigen!“
Jens Groß inszeniert Heinrich Bölls Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ am Theater Bonn – Premiere 06/24
„Wir wissen nicht viel über das Universum“
Ronny Miersch inszeniert „Der Mensch erscheint im Holozän“ am TdK – Premiere 04/24
„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24
„Wir wollten die Besucher:innen an einem Tisch versammeln“
Subbotnik zeigt „Haus / Doma / Familie“ am Orangerie Theater – Premiere 02/24
„Der Roman lässt mich empathisch werden mit einer Mörderin“
Regisseur Bastian Kraft über „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Premiere 01/24
„Wir sind voller Hoffnung, dass Demokratie möglich bleibt“
„Fulldemo.crazy“ kombiniert Möglichkeiten des Theaters und des Gamings – Premiere 12/23
„Ein interdisziplinäres großes Theaterhaus für die Stadt“
Die Dramaturgin Stawrula Panagiotaki übernimmt die Leitung der Studiobühne – Premiere 11/23