Ich stehe mitten in der Meute und weiß, dass ich eigentlich ins Bett gehöre mit der laufenden Nase und den erbärmlichen Halsschmerzen. Wenn ich nicht tanze oder laut mitsinge wird es schon gehen, bilde ich mir ein. Der letzte Livegenuss von Gogol Bordello liegt Jahre zurück und das lässt man sich nicht entgehen. Bei der Vorband Man Man gelingt das mit Mühe noch gerade. Lustig in Skelett-Kostüme gekleidet, macht sich der experimentelle Indie-Sound des amerikanischen Quintetts gut als Support. Jeder scheint hier mindestens zwei Instrumente zu spielen, zwischen den Liedern wuseln alle durcheinander und der Wohlfühlfaktor entspricht dem von Friska Viljor.
Ein bisschen holprig ist der Übergang. Der Umbau unter den gleißenden Scheinwerfern dauert ewig. Das Banner mit dem aktuellen Albumcover prangt schon an der hinteren Bühnenwand: eine Patrone, die eine Sanduhr durchschlägt. Wir debattieren noch, ob es sich bei der Patrone eigentlich um einen Penis handelt und das Motto „Fuck time!“ lautet, als das Licht erlischt.
Um Frontmann und Gogol Bordello-Gründer Eugene Hütz scharren sich sieben Musiker aus ebensovielen Nationen. In dieser Kombination liegt bereits ein Statement der Band, die seit 1999 Punk mit Balkan-Klängen und allem mischt, was sonst noch passt. Auf der Homepage, liebevoll aufgemacht wie ein Poesiealbum, findet sich auch ein handgeschriebenes, künstlerisches Manifest der Combo. Das Selbstverständnis als trans-globales Kunstssyndikat wendet sich gegen eine postmoderne „Alles schon mal dagewesen“-Ästhetik. Gogol Bordello machen mehr als einen eklektischen, weltmusikalischen Stilmix.
Das letzte Album „Trans-Continental Hustle“ war stark von Eugenes Aufenthalt in Brasilien geprägt und arg Latino-lastig. „Pura Vida Conspiracy“ orientiert sich wieder mehr an östlichen Beats und Rhythmen, die Gitarren klingen mehr nach Spanien als Lateinamerika und Eugene ist ein begnadeter Gitarrist. Am eingängigsten ist wohl „Lost Innocent World“, das aber erst zum Ende angestimmt wird. Bei den ersten Takten einer Variante von „Wonderlust King“ relativ zu Beginn formieren sich augenblicklich kleine Pogoherde. Soviel zu meinen guten Vorsätzen zur Mäßigung.
In seiner Exzentrik ein perfekter Frontmann, interagiert Eugene dennoch ständig und harmonisch mit seiner Band. Auf der Bühne tobt ein perfekt choreographierter Wanderzirkus, was nicht negativ gemeint ist, sondern eher auf den familiären Charakter anspielt. Jeder Song der Setlist wird wie eine für Berserker geschriebene Nummernrevue abgefeiert. Dennoch nimmt jeder seinen eigenen Raum ein, auch wenn Sergey Ryabatsevs Violinensolo und Elisabeth Chi-Wie Suns pure Attraktivität neben Eugenes Präsenz am meisten heraus stechen. Trotz der großen Gesten und Posen, die Letzterer immer wieder einnimmt, wirkt nichts einstudiert, sondern stets authentisch. Spätestens wenn er in der sehnsuchtsvollen Ode „Alcohol“ einer lebenslangen Liebe huldigt, weiß man dass kein Traubensaft in der Pulle Wein ist, die er mit sich rumschleppt.
Das Kölner E-Werk fasst mehr Menschen als die Bochumer Zeche, wo ich Gogol Bordello zuletzt vor Jahren gesehen habe. Das Publikum ist inzwischen zahlreicher, im Durchschnitt älter und damals war gefühlt mehr Anarchie. Auch die Band-Shirts am Merchandise-Stand waren günstiger. Aber ein Konzert von Gogol Bordello ist noch immer das Fest einer bunten Patchwork-Familie, auch ohne Vodka und marinierten Hering. Diese Euphorie wirkt lange nach. Länger noch als Husten, Heiserkeit und Nasennebenhöhlenentzündung, die mich nach eineinhalb Stunden schweißtreibendem Tanz wieder fest im Griff haben, aber das war es wert. Spasibo, Gogol Bordello.
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