Stechender Brustschmerz oder „nur“ ein Engegefühl samt Kurzatmigkeit und etwa Rückenschmerzen – sehr unterschiedliche Symptome, die jedoch denselben Auslöser haben können: einen Herzinfarkt. Lange galt dieser als klassische Männerkrankheit und wurde bei Frauen oftmals nicht früh genug erkannt. Grund dafür sind vor allem die unterschiedlichen Symptome, die er bei Frauen und Männern hervorruft. Genau mit diesen Unterschieden befasst sich heute die sogenannte Gendermedizin. Der Herzinfarkt gab erstmals den Anstoß, mehr Rücksicht auf Geschlechterunterschiede zu nehmen, so Sabine Oertelt-Prigione, die seit April 2021 die neu eingerichtete Professur für geschlechtersensible Medizin an der Universität Bielefeld innehat.
Gendermedizin als Pflichteinheit
Seit nunmehr fast 20 Jahren forscht die deutsche Ärztin zu Geschlechterunterschieden und deren Berücksichtigung in der Medizin. Das Besondere an der Bielefelder Arbeitsgruppe sei der ganzheitliche Ansatz. Man versuche zu erreichen, dass in allen Bereichen der Medizin auf Geschlechterunterschiede Rücksicht genommen wird. Dazu arbeite man auch eng mit anderen Fachrichtungen zusammen.
Eine der Aufgaben ist es, die geschlechtersensible Medizin fest im Curriculum zu verankern. Oft gibt es das Fach Gendermedizin als Wahloption im Medizin-Studium, selten allerdings ist es ein Pflichtbestandteil. In Bielefeld will man es nicht nur zur Pflicht machen, sondern als Querschnittsthema sehen.
Kürzlich hat die Arbeitsgruppe 4.500 Studien zu Covid-19 ausgewertet und diese auf die Berücksichtigung von Geschlechterunterschieden untersucht. Herausgekommen ist, dass die große Mehrheit der Studien das Geschlecht nicht thematisierte. Lediglich eine von fünf Studien berücksichtigte das Geschlecht beim Einschluss von Teilnehmenden und nur eine von 20 Studien plante, sich in der Analyse explizit den Unterschieden zu widmen.
Die Rolle des sozialen Geschlechts
Miteinbezogen wird hierbei nicht nur das biologische Geschlecht, sondern auch das soziokulturelle. Das umfasse zum Beispiel die Frage, was für eine Reaktion gesellschaftlich erwartet werde oder ob und wie sich Schmerz äußern lasse. In Verbindung mit den Geisteswissenschaften zeigen sich jedoch auch die unterschiedlichen Ansätze der Fachrichtungen. Die Trennung zwischen biologischem und soziokulturellem Geschlecht sei in der Medizin noch gar nicht wirklich angekommen, in den Geisteswissenschaften hingegen schon überwunden. Auch beim biologischen Geschlecht lasse sich schließlich keine eindeutige Grenze zwischen Mann und Frau ziehen. Oertelt-Prigione sehe hier „absolut“ die Gefahr, dass man auch mit der geschlechtersensiblen Medizin in das binäre Zweigeschlechtermodell zurückfalle: „Zum Teil wird die Gendermedizin da auch instrumentalisiert.“ Auf lange Sicht müsse man daher auch das Konzept infrage stellen. Statt um reine Geschlechterunterschiede sollte es langfristig also schlicht um die beste individuelle Behandlung gehen.
Kürzlich fand die Gendermedizin auch Einzug in den Koalitionsvertrag, der sich auf die Berücksichtigung „geschlechtsbezogener Unterschiede“ beruft, die zu einem Bestandteil der Ausbildung werden solle. Für die Gendermedizin ein großer Erfolg, der jetzt allerdings mit praktischen Inhalten gefüllt werden muss. In jedem Fall sollte man die Zeit nun nutzen. „Die Aufmerksamkeit bleibt nicht für immer“, so Oertelt-Prigione.
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