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Neue Töne in der Medizin
Foto: Tilialucida / Adobe Stock

Mensch ist nicht gleich Mann

24. Februar 2022

Gendermedizinisch forschen und behandeln – Teil 2: Leitartikel

Wer auf der Suche ist nach einem Grundlagenbuch zur menschlichen Anatomie, findet auf den Titelbildern einschlägiger Fachliteratur vorrangig durchtrainierte Männerkörper. Abbildungen von Frauenkörpern tauchen meist erst dann auf, wenn es explizit um Fortpflanzungsorgane geht. Wie kann das sein? Schließlich besitzen rund 50 Prozent aller Menschen einen Frauenkörper, etwa 0,5 Prozent sind transsexuell. Das Beispiel zeigt: Mensch sein heißt in der Medizin in erster Linie Mann sein.

Der männliche Körper war lange Gold-Standard in der Medizinforschung – und ist es teilweise noch immer. An jungen Männern und männlichen Mäusen wurde vorzugsweise Medikamenten- und Grundlagenforschung betrieben. Mit fatalen Folgen. Medikamente sind für Frauen oft überdosiert, wirken stärker und haben mehr Nebenwirkungen. Dass etwa das Herzschwäche-Medikament Digoxin bei Männern gut wirkt, bei Frauen hingegen zum Tod führen kann, bemerkte man erst Jahrzehnte nach der Zulassung. Ein künstliches Herz gibt es aktuell nur für den Männerkörper, während Krankheitssymptome bei Frauen noch immer häufig fehlgedeutet oder als psychosomatisch abgetan werden.

Biologische Unterschiede

Dass Frauen andere Krankheitsverläufe haben als Männer, liegt nicht zuletzt an biologischen Ursachen. Weibliche und männliche Körper sind unterschiedlich, so haben Frauen zwei X-Chromosomen; Fettanteil, Stoffwechsel, Hormonhaushalt, Anatomie, Immunsystem und Organe sind anders – zumindest im Durchschnitt.Zudem gibt es individuelle und soziokulturelle Faktoren, die beispielsweisedie Lebensführung beeinflussen.

Aber warum hat sich die Medizin so lange am männlichen Körper orientiert? Neben der Tatsache, dass der Mann Jahrtausende langohnehin Standard für alles war, fürchteten Mediziner offenbar, dass mögliche Schwangerschaften und hormonelle Schwankungen ihre Studienergebnisse verfälschten. Nach Kirsten Kappert-Gonther, stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, seien außerdem zu wenig Frauen in Schlüsselpositionen im Gesundheitswesen vertreten: „Die gläserne Decke ist dort mindestens so dick wie in den DAX-Unternehmen“, so Kappert-Gonther.

Der Anfang der Geschlechtermedizin

Differenzen fielen zum ersten Mal in den 80er Jahren auf, als Mediziner unterschiedliche Herzinfarkt-Symptome bemerkten. Statt Schmerzen in Brust und Armen, spüren Frauen eher Übelkeit und Rückenschmerzen. Damals entstand die Geschlechter- oder auch Gendermedizin, anfangs mit großem Widerstand von konservativen Medizin-Fakultäten. Seitdem hat sich einiges getan, so müssen Pharmaunternehmen seit 2004 geschlechtsspezifische Unterschiede bei neuen Medikamenten überprüfen. Handlungsbedarf besteht unterdessen noch in der Besetzung von Führungspositionen im Gesundheitswesen. Im Medizinstudium spielen Geschlechterunterschiede meist nur eine untergeordnete Rolle, es mangelt an Aufklärungsarbeit für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte.

Durch feministische Theorien wurde biologischen Unterschieden lange Zeit weniger Bedeutung beigemessen, doch im Falle der Medizin führte dies zu Falschbehandlungen und langen Leidenswegen. Hier funktioniert es nur andersherum, gerade um Frauen gerecht zu werden: Biologische Unterschiede müssen untersucht und ernst genommen werden – individuelle sowie jene zwischen Frauen und Männern. Die Gendermedizin berücksichtigt alle Geschlechter, so werden etwa Depressionen bei Männern wegen unterschiedlicher Symptome und gesellschaftlicher Normen seltener diagnostiziert, die Suizidrate ist entsprechend höher. Von geschlechtersensibler Medizin profitieren am Ende also alle.


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Mareike Thuilot

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