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Anke-Christine Saß
Foto: privat

„Nicht bei zwei Geschlechtern stehen bleiben“

24. Februar 2022

Gesundheitsexpertin Anke-Christine Saß über Gendermedizin – Teil 2: Interview

choices: Frau Saß, was versteht man unter Gendermedizin?

Anke-Christine Saß: Gendermedizin ist definiert als ein Teilbereich der Humanmedizin, der sich mit dem Einfluss des Geschlechts auf Prävention, Entstehung von Krankheiten, Diagnose und Forschung befasst. Dabei unterscheiden wir Sex als biologisches Geschlecht und Gender als soziales Geschlecht, das hier auch berücksichtigt wird. Das soziale Geschlecht spielt zum Beispiel in Fragen der Ernährung, bei Alkoholkonsum, Bewegung und Rauchverhalten eine große Rolle. Oftmals „mögen“ Männer eher das Steak und Frauen eher den Salat. Hier geht es um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, in der man oder frau sich verortet, um soziale Rolle. Genetisch ist das nicht verankert, der männliche Körper benötigt keinen anderen Speiseplan als der weibliche, vielmehr profitieren beide von einer gesunden und ausgewogenen Ernährung. Ziel der Gendermedizin ist natürlich, sowohl Frauen als auch Männern eine bessere und ganz passende Prävention (Vorsorge) und medizinische Versorgung zukommen zu lassen.

Macht es sich auch bemerkbar, ob die behandelnden Ärzte Männer oder Frauen sind?

Tatsächlich befassen sich die meisten Studien im Bereich Gendermedizin eher mit der Frage, welches Geschlecht der Patient hat, aber es gibt auch Studien zu den Behandelnden, was natürlich ebenfalls ein wichtiges Thema ist. Einige Studien haben gezeigt, dass sich Ärztinnen mehr Zeit für psychosoziale Themen nehmen und außerdem mehr Zeit auf Prävention verwenden. Laut Umfragen haben Patienten und Patientinnen auch eher das Gefühl, aus einem Gespräch mit ihrer Ärztin gestärkt herauszukommen. Für einen richtig guten Überblick müsste man aber noch einmal tiefer in die Datenlage einsteigen.

Bis in die 80er Jahre hinein haben mehr Männer Herzinfarkte überlebt als Frauen“

Wo gibt es die gravierendsten Unterschiede zwischen der Gesundheit von Männern und Frauen?

Es gibt natürlich sehr viele Bereiche, in denen es Unterschiede gibt, wie auch der von uns 2020 veröffentlichte Frauengesundheitsbericht zeigt. Drei wichtige und viel diskutierte Unterschiede möchte ich anführen, zunächst die Lebenserwartung. Frauen werden im Schnitt knapp fünf Jahre älter als Männer. Hierzu gibt es übrigens eine sehr interessante Studie, die man in Klöstern durchgeführt hat. Die Lebensumstände in einem Männer- und einem Frauenkloster sind sehr ähnlich, so dass sich dies anbietet, um den Einfluss des sozialen Geschlechts bei der Lebenserwartung zu erforschen. Und tatsächlich zeigte die Studie, dass bei diesen gleichen Lebensumständen das Plus bei der Lebenserwartung der Frauen nur ein Jahr betrug. Das zeigt also, dass alleine vier Jahre Unterschied, die man in der gesamten Bevölkerung gesehen hat, auf Faktoren des sozialen Geschlechts beruhen. Das bedeutet also, dass es weniger in der Biologie verankert ist, dass Frauen älter werden denn darin, dass Männer anders leben. Sie üben zum Beispiel andere Berufe aus, die zum Teil ein höheres Unfallrisiko haben, wie etwa auf dem Bau. Sie rauchen häufiger und trinken mehr Alkohol. Ein weiterer wichtiger Bereich sind Herz-Kreislauferkrankungen. Bis in die 80er Jahre hinein überlebten mehr Männer als Frauen einen Herzinfarkt. Das lag vor allem darin begründet, dass die Symptome bei Frauen andere sind als bei Männern. Und letztere standen in den Lehrbüchern, die von Frauen aber nicht, so dass häufig die Vorzeichen und Symptome nicht richtig erkannt und die Patientinnen dann auch nicht richtig behandelt wurden. Das war in den 80ern dann auch der Startschuss für die heutige Gendermedizin. Inzwischen sind die Symptome bei Frauen besser bekannt. Als dritter wichtiger Bereich sind die psychischen Erkrankungen zu nennen. Diese sind bei Frauen vermutlich häufiger, sie werden aber auch öfter diagnostiziert, während man bei Männern häufiger körperliche Ursachen bei psychischen Problemen vermutet. Bei Frauen werden zum Beispiel mehr Depressionen diagnostiziert als bei Männern. Dafür gibt es mehrere Gründe, einer sind die Symptome. Sie sind bei Frauen „typischer“, Frauen berichten also zum Beispiel über Rückzug, Traurigkeit, Antriebslosigkeit. Depressionen bei Männern zeigen sich demgegenüber auch als Aggression oder im Missbrauch von Suchtmitteln. Diese drei Beispiele zeigen ganz gut, dass sowohl die Biologie als auch das soziale Geschlecht als auch die Diagnosestellung eine ganz wichtige Rolle bei der Gendermedizin spielen.

Soziale Unterschiede sind für die Gesundheit sehr wichtig, manchmal wichtiger als das Geschlecht“

Werden die Unterschiede in der Forschung angemessen berücksichtigt?

In den letzten Jahren hat es sehr viel Forschung im Bereich Geschlecht und Gesundheit gegeben sowie zahlreiche Förderungen. Dabei ging es natürlich vor allem um den medizinischen Bereich, aber auch die Prävention. Aber am Ende sind wir deshalb noch lange nicht – die Ergebnisse müssen erst den Weg in die Praxis finden. Wirklich gleiche Chancen brauchen noch lange. Auch im Medizinstudium steht die Gendermedizin dank engagierter Ärztinnen und Ärzte auf der Agenda, wird aber in der Praxis oft noch zu wenig berücksichtigt und ist noch längst nicht in allen Bereichen angekommen. Den Siegeszug der Gendermedizin gab es also noch nicht.

Wie geht die Pharmaindustrie damit um?

Hierzu gibt es auch ein ausführliches Kapitel im Frauengesundheitsbericht, den wir veröffentlicht haben. Dabei geht es vor allem um Unterschiede bei Nebenwirkungen beziehungsweise ganz allgemein die unterschiedlichen Reaktionen auf Medikamente. Teils wirken diese bei Frauen und bei Männern fast gar nicht – oder aber umgekehrt. Tatsächlich gab es früher weniger Frauen in den Studien, allerdings ist seit 2004 gesetzlich geregelt, dass bei Studien die unterschiedlichen Wirkungsweisen bei Männern und Frauen berücksichtigt werden müssen. Ein ganz aktuelles Thema ist im Moment, inwieweit Schwangere und Stillende an Studien teilnehmen sollen. Aber auch hier es so, dass die Ergebnisse der Studien in der Praxis ankommen müssen, damit wirklich alle Frauen und Männer von den Medikamenten profitieren, die bei ihnen am besten wirken.

Was muss in der Hinsicht noch getan werden und welche Empfehlungen hätten Sie?

Das Thema kann man natürlich auf ganz unterschiedlichen Ebenen durchdeklinieren. Übergreifend würde ich aber sagen, dass hier noch mal deutlich wird, wie wichtig die Gleichstellung der Geschlechter ist. Mit gleichen Chancen in der Arbeitswelt und einer gerechten Verteilung von Familienarbeit – um nur zwei Dinge zu nennen – rückt auch eine gesundheitliche Chancengleichheit in greifbare Nähe. Der zweite Punkt sind soziale Unterschiede innerhalb der Geschlechtergruppen. Diese sollte man bei der Diskussion nicht vergessen. Soziale Unterschiede spiegeln sich zum Beispiel in der Lebenserwartung, hier sind die Unterschiede zwischen sehr gut verdienenden und armen Männern größer als die zwischen Männern und Frauen. Und ein letzter Punkt: Wir haben jetzt nur von der Gesundheit von Männern und Frauen gesprochen. Was ist mit denjenigen, die sich nicht einem der beiden Geschlechter zuordnen wollen oder können? Diese Gruppe, die auch als LGBTIQ-Personen bezeichnet wird, bekommt in den letzten Jahren endlich verstärkt Aufmerksamkeit, auch in der Gesundheitsforschung. Wichtige Themen hier sind zum Beispiel Zugangsbarrieren bei der Gesundheitsversorgung oder Diskriminierungserfahrungen. Wir dürfen in der Forschung und Praxis nicht stehen bleiben bei zwei Geschlechtern und erst recht nicht bei den Stereotypen.


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www.equalpayday.de | Rechnerisch arbeiten Frauen die ersten 66 Tage des Jahres umsonst. Zum Equal Pay Day am 7. März gibt es Kampagnen und Aktionen.
equalcareday.de | Die Städtekonferenz am 1. März bietet Vorträge, Workshops und Panels zur Sorgearbeit.

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Interview: Verena Düren

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