Im Juli würden erstaunlich viele Neustarts den Bechdel-Test bestehen. Für den Fall, dass Sie den Bechdel-Test nicht kennen: Im Jahr 1985 ließ die Autorin und Comiczeichnerin Alison Bechdel in dem Strip „The Rule“ zwei ihrer Protagonistinnen vor einem geplanten Kinobesuch über ihre Auswahlkriterien diskutieren. Die eine Frau nennt ihre einfache Regel: „It has to have at least two women in it who ... talk to each other … about something besides a man“. Also: Mindestens zwei Frauen müssen vorkommen, die miteinander reden, und zwar nicht nur über Männer. Der letzte Film, der die Kriterien erfüllte sei „Alien“ von 1979 gewesen, weil die beiden Frauen darin nicht über Männer, sondern über „the monster“ sprechen. Schließlich stehen sie ratlos vor den Schautafeln des Kinos und gehen ob des Angebots lieber wieder nach Hause.
Nimmt man den Test ernst, und das machen inzwischen unzählige Akademiker, Filmkritiker und Kinogänger (alleine auf der Webseite bechdeltest.com sind bis dato über siebentausend Filme getestet), ist man erstaunt, wie viele Filme diese extrem niedrig gehaltene Messlatte reißen. Das passiert sicher häufiger beim Programm der Multiplexe, aber auch bei Arthausfilmen, wie die diesjährigen Filmfestspiele in Cannes mal wieder zeigten. Dort war die amerikanische Schauspielerin Jessica Chastain Jurymitglied. Auf der abschließenden Pressekonferenz des Festivals Ende Mai schwärmte sie von der einzigartigen Erfahrung, in zehn Tagen zwanzig neue Filme gesehen zu haben. Sie war aber zugleich erschrocken über die (wenigen) Frauenrollen und die damit einhergehenden Frauenbilder, die viele der Filme transportierten. Da erscheint einem das Kinoangebot im Juli geradezu fortschrittlich. Helene Hegemanns „Axolotl Overkill“ passiert den Test ebenso leichtfüßig wie „Meine glückliche Familie“, „The Party“ und natürlich „Ihre beste Stunde“. Sofia Coppola entfaltet mit ihrem Film „Die Verführten“ demonstrativ ein Spiel mit der klassischen Rollenverteilung.
Was man in der ganzen Diskussion nicht vermischen sollte: Der Test klärt nur das Verhältnis der Frauenfiguren eines Films zur Wirklichkeit, in der über 50 Prozent der Menschen Frauen sind, die sich zu fast 100 Prozent miteinander nicht nur über Männer unterhalten. Dass nur 57 Prozent aller Filme den Bechdel-Test bestehen, während fast 100 Prozent aller Filme einen umgekehrten Bechdel-Test zur Männer-Repräsentanz bestehen würden, sagt einiges und hängt eventuell mit dem Frauenanteil in der Filmbranche zusammen. Der Test sagt allerdings nichts über die filmischen und erzählerischen Qualitäten aus, und auch nicht, ob Frauen oder Männer die besseren Frauenfiguren schreiben. Er sagt nicht einmal etwas darüber aus, ob ein Film eine feministische Perspektive einnimmt. Einige der interessantesten Filme der Filmgeschichte sind mit dem Test nicht nur nicht zu fassen, sondern produzieren spannende Schwingungen. Sehen sie sich auf der Webseite bechdeltest.com einmal die Diskussionen um Lars von Triers „Antichrist“ oder „Fifty Shades of Grey“ von Sam Taylor-Johnson an...
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