Pflanzen sind passiv, unpolitisch und langweilig? Mechanische Wesen, die allenfalls auf Reize reagieren und zu dekorativen Objekten degradiert werden? Soweit das Klischee. Dass dem nicht so ist, zeigt die zweijährige Ausstellung „Floraphilia. Plants as Archives“, die am vergangenen Freitagabend in Köln eröffnet wurde. Jene setzt künstlerisch die Geschichte der Botanik in einen Zusammenhang mit Kolonialismus und anderen politisch-sozialen sowie kulturellen Fragen. Hierzu hat sich der Academyspace der Akademie der Künste der Welt in ein grünes Pflanzenmeer verwandelt. Wo der Betrachter hinsieht, sieht oder fühlt er Grün.
Ob eine Pflanze der Künstlerin Candice Lin („Untitled“, „Abortifacient Flower“, 2016), die trotz Künstlichkeit ein Eigenleben zu führen scheint und irgendwie angsteinflößend ist, scheint sie doch sogar seltsame Gerüche von sich zu geben, ein Handschuh aus Kresse der Künstlerin Teresa Murak, der sich dem Betrachter fast ins Gesicht drängt, oder auch das Projekt „Weeds“ (2015), ein grüner, von oben herunter hängender Garten der Künstlerin Karolina Grzywnowicz – sie alle flüstern dem Zuschauer etwas zu, erzählen Geheimnisse aus der Vergangenheit, Geschichten, die bis dato die Wenigsten kannten. So befasst sich Lins Werk mit der Bedeutung von Pflanzen und ihren Kämpfen im Laufe der Historie – gegen Kolonialismus, Unterdrückung und Sklaverei, für Feminismus und Frauenrechte. Der hierbei entstandene Geruch stammt aus Pflanzeninhalten, die während der Sklaverei benutzt wurden, um bei Frauen Abtreibungen zu erzwingen. Auf unheimliche und eklige Weise wird somit die Pflanze, augenscheinlich passiv und unpolitisch, zu einer Art unmenschlichem Zeitzeugen. In einer Zeit, in der es keinen Widerstand gab.
Ähnlich furchteinflößend ist die Installation von Multimedia-Künstlerin Karolina Grzywnowicz: „Weeds“ ist nicht etwa, wie man vermuten könnte, eine Drogengeschichte, sondern erzählt auf leise, aber dennoch oder gerade deshalb grausame Art, von einem Geheimnis, das selbst der polnische Staat verschwiegen hat und dessen politische Zeugen nun diese Gewächse wurden: Nämlich von der Vertreibung eines polnischen Dorfes namens Hulskie, der Deportation von 500 000 Menschen als Konsequenz, die sich durch die verschobenen polnischen Grenzen nach Ende des Zweiten Weltkrieges ergab. Die Pflanzen – so unschuldig grün sie da auch versteckt in diesem kleinen Raum hinunterbaumeln – wissen mehr als ich, der Betrachter, mehr als das Volk, besitzen sogar ein Erinnerungsvermögen. Und, das ist das Besondere, sie haben der Künstlerin bei ihrer visuell-politischen Arbeit massiv geholfen: Konnte sie doch anhand der Tatsache, wo sie standen, wie sie aussahen und in welche Richtung sie blickten, an der von ihr mehrmals besuchten Grünstelle in ihrem Heimatland viel über die Geschichte der Vertreibung und die Grenzverschiebung erfahren.
Die botanischen Kunstwerke von Maria Thereza Alves, Teresa Murak, Judith Westerveld u.v.a. im Academyspace sind spooky und gleichzeitig – unbewusst – extrem politisch. Stumme Zeitzeugen, können sie doch eigentlich weder reden noch denken, und werden sie somit nicht nur zu Mitwissern von Unterdrückern, sondern gleichzeitig unterdrückt. Doch hier, in dieser Ausstellung, bekommen sie eine Sprache verliehen, die Möglichkeit, von verschiedenen Zeiten zu sprechen.
Für alle, denen nach diesem grünen Einblick in die koloniale Vergangenheit noch nicht der Appetit vergangen war, gab es am Freitag im Anschluss als Bonbon ein Blind-Dinner mit Essenskunst der Performance-Künstlerin Dagna Jakubowska in der Christus Kirche: Ein Experiment – wissen die Essenden doch nicht wirklich, was die sie und ihr Koch genau in der offenen Küche gegenüber zusammenbrauen und mit einem Lächeln auf den Tisch hexen. Jakubowska, die sich in ihrer Arbeit oft mit politischem Bewusstsein, das durch die Teilnahme an Alltagsritualen – z.B. in der Küche und dortigen Diskussionen – entsteht und den Beweggründen für Kriege befasst, zaubert im Rahmen ihres Projektes „Urban Feast: the Edible Map of Migration“ ungefähr 100 kleine, feine Speisen hintereinander auf den Tisch, die alle unmittelbar aus der internationalen Naturwelt stammen: ob amerikanische „Topinambour“, japanische „Rosa Rugosa“ oder „Black Locust“ aus Pennsylvania – alle sehen zugegeben auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig aus, schmecken jedoch fantastisch.
Statt Speisekarte wurde die jeweilige Migrationsgeschichte dieser Pflanzen und welchen Einfluss sie auf die Wirtschaft hatten, in einer Menükarte detailliert festgehalten. In diese sollte man vielleicht nicht allzu oft blicken, damit einem ob der Migrationsgeschichte nicht gar unwohl wurde. Wenn einem nicht durch die vielen verschiedenen, nicht enden wollenden Gänge irgendwann sowieso der Magen drückte. Dieser Widerspruch ist der Reiz: Dass der Gast immer mehr unterdrückte Speisen konsumiert, bis sein Magen schwer von Schuldgefühlen ist. Ein durchaus interessantes Essensexperiment, auch, wenn ein gewisses Fragezeichen angesichts der unbekannten Speisen zurückbleibt und die Frage: Wächst in mir nun eine wütende, da zwangsemigrierte Pflanze heran, und wenn ja, (wie) rächt sie sich an meinem Körper? Wie geht mein Körper mit dem Erbe des Kolonialismus um?
Floraphilia. Plants as Archives | bis 18.11.
Academyspace | www.academycologne.org
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Woyzeck im Karneval
„kah.na.v‘aw“ in der Akademie der Künste der Welt – Kunstwandel 11/23
Utopisch denken
Ausstellung „Sci-(no)-Fi“ im Academyspace – Kunst 10/19
Wir kopieren nicht zum Spaß
„Copy It!“ im Academyspace – Kunst 04/19
„Wie wird mit Erinnerungen umgegangen?“
Akademie-Leiterin Madhusree Dutta will archivieren und vernetzen – Interview 12/18
„Ich war tatsächlich ein wenig nervös“
Madhusree Dutta leitet seit April die Akademie der Künste der Welt – Interview 12/18
Mehr Schein als Sein?
Lesung und Gespräch zu „Köln kosmopolitisch“ – Literatur 12/18
Das Objekt der Begierde
„Perverse Decolonization – 1985“ im kjubh – Kunst 11/18
Kunst greifbar machen
Das Palais Temporär und die performativen Künste in Köln – Spezial 09/18
Gespenstische Mauerüberquerung
„Original Sin“: Susanne Sachsse & Xiu Xiu im Stadtgarten – Bühne 06/18
Sündhafte Gespenster
Susanne Sachsse & Xiu Xiu im Stadtgarten – das Besondere 06/18
Anhaltendes Missverständnis
Chancen der Akademie der Künste der Welt werden nicht genutzt – Kulturporträt 05/18
Köln ist keine Insel
Akademie der Künste der Welt geht neu in Stellung – Kunst 04/18
„Was ist ,analoger‘ als der menschliche Körper?“
Kuratorin Elke Kania über „Zeit-Bilder.“ im Aachener Kunsthaus NRW Kornelimünster – Interview 01/25
Mehr als Bilder an der Wand
„Museum der Museen“ im Wallraf-Richartz-Museum – kunst & gut 12/24
Vorgarten der Unendlichkeit
Drei Ausstellungen zwischen Mensch und All – Galerie 12/24
Vorwärts Richtung Endzeit
Marcel Odenbach in der Galerie Gisela Capitain – Kunst 11/24
Mit dem Surrealismus verbündet
Alberto Giacometti im Max Ernst Museum Brühl des LVR – kunst & gut 11/24
Außerordentlich weicher Herbst
Drei Ausstellungen in Kölner Galerien schauen zurück – Galerie 11/24
Fragil gewebte Erinnerungen
„We are not carpets“ im RJM – Kunst 10/24
Geschichten in den Trümmern
Jenny Michel in der Villa Zanders in Bergisch Gladbach – kunst & gut 10/24
Ein Himmel voller Bäume
Kathleen Jacobs in der Galerie Karsten Greve – Kunst 09/24
Leben/Macht/Angst
„Not Afraid of Art“ in der ADKDW – Kunst 09/24
Lebenswünsche
„Körperwelten & Der Zyklus des Lebens“ in Köln – Kunst 09/24
Die Freiheit ist feminin
„Antifeminismus“ im NS-Dokumentationszentrum – Kunstwandel 09/24
Atem unserer Lungen
„Body Manoeuvres“ im Skulpturenpark – kunst & gut 09/24