Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit
Großbritannien, Italien 2013, Laufzeit: 92 Min., FSK 12
Regie: Uberto Pasolini
Darsteller: Eddie Marsan, Joanne Froggatt, Andrew Buchan
>> www.mister-may.de
Herzerwärmendes Drama
Der Wert der Schwächsten
„Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ von Uberto Pasolini
Es wird so oft gestorben im Kino. Wie man jedoch die Toten unter die Erde bringt, damit beschäftigt sich kaum ein Filmemacher. Stirbt ein Protagonist, dann interessiert man sich für gewöhnlich ganz schnell wieder für die Lebenden. Oder für die nächsten Opfer. So zählt im Genrekino gern der Bodycount, während die Komödie, von „Immer Ärger mit Bernie“ bis hin zu „Bis zum Ellenbogen“ Schabernack mit den Toten treibt. Das Arthouse-Drama thematisiert durchaus das Sterben und den Tod, doch selten das Ritual am Grabe. Es gibt Ausnahmen, wie etwa „Nokan – Die Kunst des Ausklangs“ aus dem Jahr 2008, in dem ein Musiker unfreiwillig zum Bestatter avanciert und die Beisetzung der Toten als Aufgabe und Bereicherung zugleich erlebt. Der Held in „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ indes macht schon seit Jahrzehnten nichts anderes. John May (Eddie Marsan) ist ein sogenannter Funeral Officer in London. Vordergründig ein Bürokrat, der die Beerdigungen Verstorbener ohne Hinterbliebenen organisiert und verwaltet. Ordentlich. Außerhalb seines Dienstes ist John May allein, sein Alltag daheim ist ritualisiert. Ein Einsamer, der sich um Einsame kümmert, sobald diese gestorben sind. Weil es sonst keiner tut. Mr. May ist ein dienstbeflissener Beamter. Und doch noch viel mehr.
Die Qualität unserer Gesellschaft
Regisseur Uberto Pasolini ist nicht verwandt mit Paolo Pasolini, dafür ist er ein Neffe von Luchino Visconti. Dieses Drama bildet nach „Machan – Spiel der Träume“ erst die zweite Regiearbeit des 67-Jährigen, denn vordergründig betätigt sich der Italiener als Filmproduzent. Als er jedoch über ein Interview mit einem Funeral Officer stolperte, begann er, sich für das Thema zu interessieren und recherchierte zu Vereinsamung und Sterben, zu Leben, Wert und Entfremdung in der Zivilisation. Und er fragte sich: Wann ist eine Bestattung würdevoll? „Ich denke, dass die Qualität unserer Gesellschaft im Grunde durch den Wert bestimmt wird, den sie ihren schwächsten Mitgliedern zuerkennt.“ Und daran mangelt es, in England ebenso wie hierzulande, wo zunehmend private Anbieter mittellos Verstorbene ohne Angehörige am Fließband beisetzen. Über dreißig Funeral Officers bat Pasolini zum Gespräch, hat Beerdigungen vergessener Seelen besucht und das Umfeld der einsam Verstorbenen beäugt. Zeitgleich entstand das Drehbuch zu diesem Drama. Und die Figur des Mr. May. Ein stiller Held, ein Beamter mit Herzblut, der seinen Job zu gut macht und dem deshalb die Kündigung ins Haus steht. Er recherchiert, sucht Angehörige, verfasst für jeden seiner Klienten Traueransprachen, die er, zu ausgesuchter Musik, bei der Beisetzung hält. Beerdigungen, bei denen er selbst der einzige Gast ist.
Seine Bemühungen um seine Klientel, die Recherche, die kleinen Trauerreden, das alles sind eherne Gesten der Zwischenmenschlichkeit und Nächstenliebe. Und Ausdruck der Leidenschaft, mit der John May seiner Arbeit nachgeht. In der Chefetage allerdings sieht man das anders. Hier werden Kosten und Nutzen abgewogen. Und so bietet man im Rahmen einer Umstrukturierung dem liebenswerten Leichenverwalter einen letzten Job an. Danach aber, nach zweiundzwanzig Dienstjahren, soll er gehen. Während seine Nachfolgerin bereits fleißig Massen-Asche-Gräber aushebt, stürzt sich Mr. May auf seinen letzten Fall namens Billy Stoke. Ein heruntergekommener Mann, Knastbruder, Säufer und Rabenvater. Die Suche nach der Tochter Kelly (Joanne Froggatt) führt John May an einen Küstenort. Kelly führt einen Fish-and-Chips-Imbiss und reagiert recht klar auf den fürsorglichen Besucher: „Wir sind nicht seine Familie. Er wollte keine.“ Doch Mr. May gibt nicht auf und sucht Wegbegleiter des Verstorbenen in der Hoffnung auf eine letzte Beerdigung, die der Tote nicht als Unbekannter erlebt.
Das große Herz im Kleinen
Abgesehen von der wundervollen Melancholie, mit der Uberto Pasolini charmant die Trostlosigkeit umschreibt, abgesehen von der schlichten, wahrhaftigen Bildsprache und dem großen Herz, das sich hier im Kleinen findet, berührt „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ vor allem durch seinen Hauptdarsteller Eddie Marsan. Der 46-jährige Londoner ist bereits durch vielerlei Nebenrollen in Erinnerung. Sei es als Fahrschullehrer in „Happy-Go-Lucky“, als Inspector Lestrade in Guy Ritchies Sherlock-Holmes-Verfilmungen oder als sadistischer Ehemann in „Tyrannosaur – Eine Liebesgeschichte“. Mit der Figur des John May spielt Marsan seine erste Hauptrolle. Markant und unscheinbar, zurückhaltend und liebevoll, mit kleinen Gesten und wenigen Worten mimt er hier den stillen Helden. Eine großartige Performance, eine würdevolle Hauptrolle in einem zärtlichen, hoffnungsvollen Drama, das am Ende plötzlich in der allerletzten Szene skurrile Wege einschlägt. Das könnte den einen oder anderen Zuschauer auf der Zielgeraden irritieren, das Drama in seiner Gesamtheit aber stört das nicht.
Internationale Filmfestspiele von Venedig, Beste Regie, Uberto Pasolini
(Hartmut Ernst)
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