Mary & Max - oder: Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?
AUS 2009, Laufzeit: 92 Min., FSK 12
Regie: Adam Elliot
Darsteller: S: Helmut Krauss, Gundi Eberhard, Sebastian Schulz, Tina Engel, Valentina Bonalana, Boris Aljinovic
Als kleines Mädchen schreibt Mary einen Brief an den New Yorker Max, dessen Namen sie im Telefonbuch findet. Es entsteht eine lebenslange Brieffreundschaft zwischen zwei tragischen Gestalten. Mary wächst in einem trostlosen Vorort in Australien auf. In einer Reihenhaussiedlung lebt sie mit ihrer trinkenden Mutter und ihrem Vater, einem Fabrikarbeiter, der die Schnüre an Teebeutel heftet. Auf der Suche nach einem echten Freund schreibt die achtjährige Mary eines Tages einen Brief an den zufällig aus dem Telefonbuch erwählten Max aus New York. Schnell erwächst eine tiefe Freundschaft zwischen dem kleinen Mädchen und dem übergewichtigen Mann. Das gelingt trotz des Altersunterschieds so gut, weil Max den Charakter eines Kindes hat - er leidet am Asperger-Syndrom. Und so sind ihm die vielen naiven Fragen, die Mary stellt, ganz selbstverständlich. Zugleich kann er ganz ohne Vorbehalte seine Fragen zu Gefühlen und anderen zwischenmenschlichen Dingen, die er nicht begreift, an Mary richten. Für beide bringen die nächsten Jahre Hochs und Tiefs, ohne dass ihre Freundschaft darunter leiden würde. Doch nachdem Mary, durch die Erfahrungen mit Max angespornt, ihr Studium mit einer Arbeit über das Asperger-Syndrom am Beispiel von Max abschließt und diese Arbeit veröffentlicht, fühlt sich Max ausgenutzt. Er ist tief enttäuscht und bricht den Kontakt zu ihr ab.
GEKNE(CH)TETE AUSSENSEITER
Es kommt nicht häufig vor, dass wir in Versuchung geraten, einen Animationsfilm zum Film des Monats zu küren. Und dass, obwohl sich der Trickfilm in den letzten zehn Jahren sehr von dem Genre des Kinderfilms und damit einem recht begrenzten Nischenpublikum emanzipiert hat. Beim Zeichentrick gab es beispielsweise mit "Persepolis" und "Waltz with Bashir" in letzter Zeit großartige Filme, die sicherlich die Auszeichnung Film des Monats verdient haben, und auch die digitalen Animationsfilme von Studios wie Pixar sind oft großartiges Kino und weit entfernt vom reinen Kinderfilm. Aber wer hätte noch vor ein paar Monaten gedacht, dass der vollkommen in Vergessenheit geratene Stop Motion-Film, bei dem in akribischer Kleinarbeit Puppen zum Leben erweckt werden, im Kino eine Rolle spielen würde? Mit Adam Elliots "Mary & Max" startet nun ein beeindruckender Knetpuppenfilm à la "Wallace & Gromit" in den deutschen Kinos, bereits im Mai lief mit Wes Andersons "Der fantastische Mr. Fox" ein außergewöhnlicher Puppenfilm, wenn auch im Gegensatz zu dem Überraschungshit "Persepolis" nur mit mäßigem Erfolg an der Kinokasse. Die Übermacht und der Erfolg von digitalen Animationsfilmen von Pixar und anderen Studios scheint im Vergleich zu groß, ihre Perfektion - sowohl ästhetisch als auch narrativ - immer zwingender. Sogar die Kinoversion einer der bekanntesten deutschen Stop Motion-Figuren - dem Sandmännchen - ist Ende September inmitten fantastischer digitaler Zeichenanimationen zu sehen. Aber ist nicht gerade die Übermacht der technischen Perfektion Grund dafür, dass nun Filme wie der grob in Schwarz-Weiß gezeichnete "Persepolis", die Stoffpuppe "Mr. Fox" oder die Knetfiguren in "Mary & Max" eine Renaissance erleben?
AKKURAT UND EINDRINGLICH
Adam Elliot ist kein Unbekannnter. Seit Mitte der 90er Jahre macht er Knetanimationen. Die Kurzfilmtrilogie "Uncle", "Cousin" und "Brother" und den mittellangen "Harvie Krumpet" zählt seine Filmografie, mit Letzterem hat Elliot 2003 den Oscar für den besten animierten Kurzfilm gewonnen, außerdem den Hauptpreis in Annecy, dem weltweit bedeutendsten Animationsfilmfestival. "Mary & Max", sein erster Langfilm, an dem er über fünf Jahre gearbeitet hat, ist also alles andere als eine Überraschung, und tatsächlich ist er nur eine logische Fortführung des bisherigen Werkes. Nicht nur die Physiognomie der Figuren ähnelt der aus den Kurzfilmen, auch thematisch kreist Elliot hier wieder um die Biografien von sogenannten "kleinen Leuten", die zum Großteil geschlagen sind mit physischen und psychischen Störungen: Alkoholismus, Tourette-Syndrom, Kinderlähmung, Rollstuhlfahrer, und nun Asperger - Elliots Figuren sind Außenseiter der Gesellschaft, und die Eckdaten seiner Geschichten sind oft autobiografisch inspiriert. Die minimalistische Erzählweise der Vorgänger - die Figuren sprechen kaum selbst, meist kommentiert lediglich eine Off-Stimme die Ereignisse - hat Elliot für seinen Langfilm beibehalten. Auch die Erzählung funktioniert ähnlich additiv wie in den kürzeren Filmen. Aber weil "Mary & Max" sowohl im Setting als auch mit seinen unzähligen visuellen wie verbalen Anspielungen eine große Liebe zum Detail beweist, funktioniert Elliots Stil auch im Langformat. "Mary & Max" beeindruckt ebenso mit Schwarzem Humor wie mit der berührenden Psychologisierung der Figuren. Selbst in der akkuraten Vermittlung eines Asperger-Schicksals weist "Mary & Max" jüngere Realfilme wie "Adam" in die Schranken. Ein Kinderfilm ist "Mary & Max" sicher nicht. Dass er auf der Berlinale dennoch den Gläsernen Bären, den Preis für den besten Kinderfilm erhielt, ist sicher als Verlegenheit zu werten. Einem Knetfilm den Hauptpreis verleihen? Soweit kommt's noch ...
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