Das Mädchen, das die Seiten umblättert
Frankreich 2006, Laufzeit: 85 Min.
Regie: Denis Dercourt
Darsteller: Catherine Frot, Déborah Franois, Clotilde Mollet, Xavier de Guillebon, Antoine Martynciow
Die Eltern sparen sich die Klavierstunden für ihre Tochter Melanie vom Munde ab. Als das vielversprechende Talent dann durch die bekannte Pianistin Ariane, die während Melanies Vorspiel Autogramme gibt, aus dem Takt gebracht wird, spiegelt sich im verzweifelt-traurigen Gesichtsausdruck der präzis geführten jungen Darstellerin Julie Richalet auf anrührende Weise die ganze Enttäuschung über einen verlorenen Lebenstraum. Aber dieser Berührung der Zuschauerherzen hat Denis Dercourts subtiler Inszenierungsstil schon eine hintergründige Spannung beigemischt, die durch Jérome Lemonniers adäquaten Soundtrack noch verstärkt wird.Mit dem Zeitsprung und dem Auftauchen der mittlerweile erwachsen gewordenen Melanie (Déborah Francois) schleicht sich dann in unser Mitgefühl auf irritierende Weise ein Sympathiewechsel ein, der aus der "Guten" eine "Böse" macht und umgekehrt. Denn Dercourts raffiniert aufgebautes Drehbuch lässt uns bis zum Schluss im Unklaren, ob Melanie gezielt die Stelle im Anwaltsbüro angenommen hat, weil sie wusste, dass ihre damalige 'Peinigerin' die Frau des Chefs ist. Im geheimnisvoll-vielsagenden Gesicht von Deborah Francois, die nach ihrem beeindruckenden Spielfilm-Debüt in Luc und Jean-Pierre Dardennes Cannes-Gewinner "L´Enfant" (2005) hier wieder mit einer außergewöhnlichen Leinwandpräsenz aufwartet, sucht man jedenfalls vergeblich nach einer Lösung. "Die Umblätterin kann das Gleichgewicht zerstören". Diesen Ausspruch von Horrowitz zelebriert Melanie fortan als Arianes Konzertbegleiterin. Mit der Suspense eines Hitchcock baut der Film nun den Einbruch in eine bürgerliche Fassade à la Chabrol auf, umkreist, wie auf der Lauer, mit sanften Kamerabewegungen Opfer wie Täter.
(Rolf-Ruediger Hamacher)
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