Anora
USA 2024, Laufzeit: 139 Min., FSK 16
Regie: Sean Baker
Darsteller: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yuriy Borisov
>> www.upig.de/micro/anora
Tragikomischer Genre-Trip
Sex statt Gewalt
„Anora“ von Sean Baker
Sean Bakers Filme behandeln seit vielen Jahren Sexarbeit in den unterschiedlichsten Formen: „Starlet“ (2012) handelt von einer Pornodarstellerin und ihrer Freundschaft mit einer älteren Dame aus der Nachbarschaft. „Tangerine L.A.“, 2015 der erste komplett auf iPhones gedrehte Kinolangfilm, begleitet eine Transgender-Prostituierte auf ihrer nächtlichen Odyssee in Los Angeles. „The Florida Project“ beobachtet eine verarmte Mutter und ihr Kind, die in einem Motel unweit von Disney World leben. Schließlich arbeitet die Mutter aus Geldnot als Prostituierte. Bakers letzter Film „Red Rock“ kreist um einen abgehalfterten Pornostar, der mit leeren Taschen in seine alte Heimat zurückkehrt. Klingt alles trostlos? In Bakers Filmwelten sind die Protagonist:innen allesamt selbstbestimmte Heldinnen und Helden, die bei aller Notlage versuchen, ihre Würde zu behalten. Bakers Art, Filme zu machen, unterstützt sie dabei. Er beobachtet voller Mitgefühl, aber nie von oben herab. Das spürt man auch als Zuschauer:in, denn man fühlt sich zwar hineingeschmissen in diese illustren, dem Großteil des Publikums wohl recht fremden Welten, aber immer gut aufgehoben. Denn nicht nur Detailfreude und Realismus prägen die Filme von Baker, sondern auch sein großes Herz, das uns vor allzu schlimmen Schicksalen schützt. „Wir haben einen merkwürdigen Punkt erreicht, bei dem wir uns mit Gewalt wohler fühlen als mit Sex“, sagt er, und hält dagegen. So auch in seinem neuen Film „Anora“, mit dem er in diesem Jahr die Goldene Palme in Cannes gewinnen konnte.
In einer Strip-Bar lernt mit Mittzwanzigerin Anora den jugendlichen Oligarchen Ivan kennen. Ivan kommt mehrmals, fragt dann, ob sie auch „Hausbesuche“ mache und lädt sie schließlich ein, für eine ganze Woche zu bleiben. Anora kommt kaum aus dem Stauen heraus, als sie die Villa sieht, in der Ivan lebt. Und zu dem Zeitpunkt hat sie die Garage mit etlichen Luxuswagen noch gar nicht gesehen. Sie findet nicht nur Gefallen an dem luxuriösen Ambiente, sondern auch an dem naiven Jungen, der noch ein paar Jahre jünger ist als sie. Das alles hält sie aber nicht davon ab, bei Verhandlungen hart zu bleiben. 15.000 Dollar zahlt Ivan, damit sie eine Woche bleibt, inklusive Ausflug nach Las Vegas. Dort überkommt es die beiden in einem spontanen Anflug von Überschwang, und sie heiraten. Anora scheint das große Los gezogen zu haben und kündigt direkt in der Strip-Bar. Doch Ivans Eltern sind wenig begeistert und hetzen ihre Aufpasser auf das Paar. Die Ehe soll sofort annulliert werden.
Schon die ersten Szenen zeigen das Ambiente in der Strip-Bar – die klassischen Szenen vom Pole Dance, von der Anmache der Kunden, aber auch die Rauchpausen der Frauen oder die Streitereien in der Garderobe ziehen uns in die Szenerie hinein. Dann biegt „Anora“ ab in ein für Baker ungewohnt protziges Milieu, wo er seinen jungen Protagonist:innen bis in den verschwenderischen Irrsinn von Las Vegas à la „Hangover“ folgt. Erst wenn die Aufpasser von Ivans Eltern auftreten, in einer etwa zwanzigminütigen Hauseinbruch-Szene, kommt der Film etwas zur Ruhe. Auch wenn diese Ruhe relativ ist, denn jetzt wird es auf eine ganz andere Art körperlich. Waren bislang die Körper mit Erotik und Sex beschäftigt, geht es nun um Angriff und Verteidigung. Dabei bleibt der Humor keinesfalls auf der Strecke, sondern kann sich im Gegenteil auf der nachfolgenden nächtlichen Verfolgungsjagd halten. Baker spielt in „Anora“, anders als bei seinen bisherigen Filmen, verschiedene Genres durch, die man in dieser Deutlichkeit nicht erwarten konnte. Aber zwischen all diesen temporeichen Wechseln verändern sich die Figuren – Ivan, die Aufpasser der Eltern und nicht zuletzt Anora – kaum merklich, passen sich an die neuen Situationen mal besser, mal schlechter, mal sehr schlecht an. Aber auch Letzteres unterfüttert Baker stets mit Humor und Wohlwollen. Man hat wohl nur selten so sympathische Bösewichte in Filmen gesehen. Und wenn man das turbulente Treiben um die Figuren und ihren Versuch, sich in ihrer Welt zu behaupten, bis fast zum Ende gut unterhalten begleitet hat, dann tischt der Film dank einer großartigen Regieleistung und nicht zuletzt dank einer fantastischen Mikey Madison („Once Upon A Time... In Hollywood“, „Scream“) als Anora eine der berührendsten Schlussszenen der jüngeren Filmgeschichte auf.
(Christian Meyer-Pröpstl)
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