Brauchen wir Prophezeiungen, die uns vor Katastrophen warnen? In einer Zeit, in der die Katastrophen Alltag sind? 1983 hat Christa Wolf ihre Erzählung „Kassandra“ gleichzeitig in der DDR und der BRD veröffentlicht. Wenn das Bonner fringe ensemble um Regisseur Frank Heuel jetzt eine szenische Umsetzung ankündigt, stellt sich die Frage nach der Aktualität. Wolf untersucht in ihrem Buch den Ursprung der Gewalt. Sie bedient sich dazu, wie viele Schriftsteller der DDR vor ihr, des griechischen Mythos. Die trojanische Seherin Kassandra hatte ihre Landsleute vor den Griechen und ihrem hölzernen, dem trojanischen Pferd gewarnt. Vergeblich. In der Stunde ihres Todes hält Kassandra Rückschau auf die Ursachen von Krieg und Gewalt. Es ist eine radikale Selbstbefragung, in der nicht nur das Freund-Feind-Schema, die patriarchalische Macht, sondern die Götter gleich mit in den kritischen Strudel geraten. Als Christa Wolf ihr Buch schrieb, wurden in der BRD gemäß dem sogenannten NATO-Doppelbeschluss neue Raketen und Marschflugkörper installiert. Dass sich an der Gewaltbereitschaft bis heute kaum etwas geändert hat, macht ein aktuelles Panorama vom Ukraine-Konflikt über die Flüchtlingsdramen bis zum Krieg des IS klar. Vorhersagen muss derzeit Gewaltexzesse also niemand, ihre selbstverständliche Wiederkehr nagt allerdings an unserem vermeintlich aufgeklärten Bewusstsein.
Die weibliche Perspektive auf Krieg und die Erfahrung von Verbrechen und Vertreibung spielt auch in Wajdi Mouawads Stück „Verbrennungen“ eine Rolle, das das Kölner Theater im Bauturm zur Saisoneröffnung herausbringt. Als die weibliche Hauptfigur Nawal im Alter von 65 Jahren in einem westlichen Land stirbt, gibt sie in ihrem Testament ihren beiden Kindern Simon und Jeanne einen Auftrag: Sie sollen jeweils einen Brief an den tot geglaubten Vater und einen weiteren Sohn, von dessen Existenz die beiden bisher nichts wussten, übergeben. Simon und Jeanne machen sich auf die Suche und landen in einem vom Bürgerkrieg zerstörten Land im Nahen Osten. Sie rekonstruieren Stück für Stück den Lebensweg ihrer Mutter. Im Alter von 14 Jahren wird Nawal von ihrer große Liebe schwanger, bringt ein Kind zur Welt, das ihr weggenommen wird. Sie muss ihr Dorf verlassen. Später bringt sie sich Lesen und Schreiben bei und kämpft während des Bürgerkriegs gegen die Militärregierung. Im Gefängnis wird sie gefoltert und vergewaltigt und bringt die Zwillinge Simon und Jeanne zur Welt. Nach ihrer Freilassung wandert sie mit ihnen in den Westen aus. Trotz der Sicherheit des Exils verfällt Nawal zunehmend in Schweigen. In dieser Atmosphäre emotionaler Kälte wachsen ihre Kinder auf, die nun die Gründe für das Verhalten ihrer Mutter entdecken. Der frankokanadische Autor Wajdi Mouawad, dessen Familie 1977 vor dem Bürgerkrieg im Libanon in den Westen geflohen ist, schildert in seinem Stück die verheerenden Folgen von Gewalt und Krieg für den Einzelnen, vor allem die Frauen. „Verbrennungen“ wird inszeniert von Rüdiger Pape.
„Kassandra“ | R: Frank Heuel | fringe ensemble / Theater im Ballsaal, Bonn | Do 24.9.(P) 20 Uhr | 0228 79 79 01
„Verbrennungen“ | R: Rüdiger Pape | Theater im Bauturm | Sa 12.9.(P) 20 Uhr | 0221 52 42 42
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