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Sven Giegold
Foto: privat

„Eigentümer üben übermäßigen Einfluss aus“

30. April 2019

Grünen-Politiker Sven Giegold über Eigentum und Gemeinwohl

choices: Herr Giegold, „Eigentum“ ist ein politisch aufgeladener Begriff: für die einen Wurzel allen Übels, für die anderen die wichtigste zivilisatorische Errungenschaft. Was wird unter Eigentum verstanden?
Sven Giegold: Mit dem Artikel 14 des Grundgesetzes ist jedenfalls nicht das eigene Handtuch gemeint. Nicht die eigenen Siebensachen, die ja auch als Besitz bezeichnet werden, der völlig unbestritten ist. Es geht um das Eigentum an Produktionsmitteln und an Grund und Boden, die gemeinhin als Reichtümer verstanden werden.

„Eigentum verpflichtet“. Manchen ist das zu offen formuliert. Wen verpflichtet Eigentum zu was?
In der Tat ist die Formulierung sehr offen. Es gibt Landesverfassungen, die sind viel genauer, zum Beispiel die bayerische Landesverfassung. Dort heißt es im Artikel 103 „Eigentumsordnung und Eigentumsgebrauch haben auch dem Gemeinwohl zu dienen”, und weiter „Für die Allgemeinheit lebenswichtige Produktionsmittel, Großbanken und Versicherungsunternehmungen können in Gemeineigentum übergeführt werden, wenn die Rücksicht auf die Gesamtheit es erfordert”,sowie „Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen”. Das sind sehr schöne und weise Formulierungen. In dem Moment, in dem Eigentum nicht mehr dem Gemeinwohl dient, oder es sogar schädigt, muss die Politik regulierend eingreifen und wenn auch das nicht mehr hilft, kann es auch zur Enteignung kommen. Ebenso wäre möglich, über das Wettbewerbsrecht durch eine Entflechtung wieder neuen Wettbewerb zwischen privaten Anbietern zu ermöglichen. All diese Optionen sind offen. Die Väter und leider wenigen Mütter des Grundgesetzes waren ebenfalls so weise, das Funktionieren der Demokratie von der Wirtschaftsordnung zu trennen. Darin liegt die Schönheit unseres Grundgesetzes, dass die Frage der Wirtschafts- und Eigentumsordnung offen ist.

Wie wurde dieser Grundsatz juristisch konkret umgesetzt?
Es gibt ja ständig Fälle, in denen Privateigentum eingeschränkt wird, sowohl durch das Kartellrecht als auch ganz konkret durch Enteignung. Denken sie etwa an den Straßen- oder Eisenbahnbau sowie den Braunkohletagebau. Wenn da etwa ein Bauer seine Weide nicht verkaufen will, ist die Enteignung das letzte Mittel. Es ist im Moment eine Minderheitenposition, dass Privateigentum an Grund und Boden, sowie an Produktionsmitteln, nicht mit den Zielen des Allgemeinwohls vereinbar ist. Allerdings werden diese Stimmen wegen der immer ungleicheren Vermögensverteilung wieder lauter. Man betrachte etwa Finanzinvestoren wie Blackrock oder Vanguard, deren Anteilseigner zwar keine übermäßige Kontrolle über das Wirtschaftsleben ausüben, die aber durch die Konzentration der Vermögensverwaltung dennoch einen schädlichen Einfluss auf die Wirtschaft als Ganzes haben. Also stellt sich die Frage nach der Eigentumsordnung und der Kontrolle über Eigentumstitel derzeit wieder neu.

Über die Wirtschaft heißt es, Gewinne würden privatisiert, Verluste dagegen vergesellschaftet. Wie ist es den wirtschaftlichen Akteuren gelungen, sich der Verantwortung zu entziehen?
Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit fallen eben immer wieder auseinander. Das kennen wir ja auch von anderen Artikeln des Grundgesetzes. Denken Sie etwa an die Gleichheit der Menschenwürde, die in unserer Gesellschaft auch nicht überall realisiert ist. Aber konkret ist es natürlich so, dass die großen Eigentümer leider einen übermäßigen Einfluss in unserer Demokratie ausüben. Das sehe ich im Europaparlament jeden Tag. Das heißt, eine Umsetzung der Idee, dass Eigentum in die Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl genommen wird, gelingt immer wieder nicht, weil der Einfluss der Eigentümer auf die demokratische Entscheidungsfindung so groß ist. Dabei geht es nicht so sehr darum, dass Politiker gekauft würden. Es geht um subtilere Formen der Einflussnahme: um erfolgreiche, systematische Lobbyarbeit, den Einkauf von Wissenschaft und Informationen, um das gezielte Lancieren dieser Informationen in den Medien. So wird ein öffentliches Klima geschaffen, in dem Entscheidungen im Interesse des Gemeinwohls nicht mehr von einer Mehrheit der Menschen unterstützt werden. Und das ist natürlich sehr heikel. Der Kapitalismus ist eben auch in der Demokratie nicht neutral und das Prinzip „Eine Person – eine Stimme“ wird immer wieder durchbrochen von dem Prinzip „Ein Euro – großer Einfluss“. Daher müssen wir dringend begrenzen, was Geld in der Politik darf und was nicht. Wir brauchen eine Trennung zwischen demokratischer Politik und dem großen Geld.

Sind multinationale Konzerne durch nationale Instrumente wie dem Grundgesetz überhaupt noch zu greifen?
Das ist natürlich auch ein Aspekt. Durch die Globalisierung sind Nationalstaaten als Träger von Rechten und Verpflichtungen immer häufiger nicht mehr souverän. Sie können Souveränität nur noch als Mitglieder von internationalen Institutionen ausüben, also durch gemeinschaftliche Aktivitäten etwa innerhalb der Europäischen Union. Das ist natürlich ein Fortschritt für Recht und Gerechtigkeit, aber in der Konsequenz heißt es, dass wir die Demokratie genauso internationalisieren müssen, wie die Wirtschaft. Dazu ist die Europäisierung der Demokratie ein einzigartiger erster Schritt. Dagegen ist die Vorstellung illusionär, dass starke soziale Rechte durch den Nationalstaat alleine garantiert werden können, während sich unsere technologischen und ökonomischen Möglichkeiten immer weiter ausweiten. Die Renationalisierung der AfD und von Teilen der Linkspartei ist eine illusionäre Position, weil unsere Technik es uns ermöglicht, das Schicksal der Menschen global zu beeinflussen und dagegen hilft nur eine handlungsfähige, international organisierte Demokratie.

In Berlin wird zurzeit über die Enteignung von Wohnungsgesellschaften diskutiert. Wurde dieses Mittel – das vom Grundgesetz ja vorgesehen ist – schon einmal in dieser Größenordnung angewandt?
In diesem Ausmaß bisher sicherlich nicht. Aber natürlich muss man sagen, dass Grund und Boden noch etwas anderes ist als die klassischen Produktionsmittel, denn Grund und Boden ist per definitionem nicht vermehrbar. Er ist ein Geschenk, das wir erhalten haben und ist daher auch kein klassisches marktförmiges Gut. Bei Grund und Boden haben wir es sehr häufig mit positiven und negativen externen Effekten zu tun: Wenn etwa Berlin durch die Gemeinschaftsleistung der Berliner oder gar des ganzes Landes eine Aufwertung erfährt, profitieren davon auch die Grundbesitzer, die dafür gar nichts geleistet haben. Deshalb ist Grund und Boden immer wieder eine Quelle leistungslosen Einkommens. Wenn eine Region jedoch heruntergewirtschaftet wird, verlieren auch die Grundbesitzer, die sich voll in den Werterhalt ihrer Immobilie reingehängt haben. Aus all diesen Gründen ist es bei Immobilien besonders gut gerechtfertigt, einzelne Unternehmer zu regulieren und notfalls zu enteignen. Das gilt besonders, wenn sie einen relevanten Anteil am Markt haben und nicht ordentlich mit ihrem Gut angehen. Allerdings ist die Enteignung im Vergleich zur Regulierung der ungleich härtere Eingriff. Ich glaube persönlich nicht, dass auf diese Weise die Berlinerinnen und Berliner zügig zu Erleichterung im Wohnungsmarkt kommen. Die rechtlichen Unsicherheiten sind groß. Jahrelange Prozesse über alle Instanzen wäre zu befürchten. Eine harte Regulierung ist ungleich leichter durchzusetzen als eine Enteignung. Zudem sei folgende Bemerkung gestattet: Die Stadt Berlin hat sich bisher nicht mit dem Beweis hervorgetan, dass sie mit öffentlichem Eigentum besser umgehen kann als private Unternehmen. Deswegen ist der Staat in der Pflicht zu begründen, wie er das machen will. Wer ist in Deutschland bisher denn wirklich verantwortlich mit Grund und Boden umgegangen? Das sind in erster Linie die Genossenschaften, die weder staatlich noch privatkapitalistisch sind, und dank denen es in vielen Großstädten gute Wohnungen zu erträglichen Preisen gibt. Ich finde, dass die genossenschaftliche Form von Eigentum in der öffentlichen Debatte viel zu wenig wertgeschätzt wird. Sehen sie sich den Bankensektor an, der einzige Sektor, der in der Finanzkrise ohne staatliches Geld ausgekommen ist, waren die Genossenschaftsbanken. Die Debatte in Berlin ist völlig berechtigt und ich habe auch Sympathien für das Volksbegehren, aber ich würde raten, konzentriert euch nicht immer auf den Staat, sondern denkt auch darüber nach, wie Menschen gemeinsam privatwirtschaftlich handeln können.

Für das Volksbegehren gibt es viel Sympathie. Aber würde diese Maßnahme in anderen Kontexten nicht auch Misstrauen hervorrufen?
Natürlich und zwar auch zu Recht, denn wir wissen ja, dass Staatseigentum an Produktionsmitteln oft dazu geführt hat, dass Innovationen nicht stattgefunden haben. Gerade, wenn es um Innovationen geht, ist ein gut funktionierender und im Interesse des Allgemeinwohls gestalteter Markt häufig schneller darin, die nötigen Innovationen hervorzubringen. Nehmen sie den Klimaschutz: Würde der Staat die Umstellung auf ein CO2-neutrales Wirtschaften übernehmen, bin ich mir sicher, wir würden schlechter dastehen, als wenn der Staat die Minderungsziele vorgibt und dann mit einer aktiven Industriepolitik dafür sorgt, dass Privatunternehmen die richtigen Entscheidungen treffen. Es gibt natürlich Innovationen, die staatliche Förderung brauchen, etwa Grundlagenforschung oder sehr risikoreiche, große Projekte. Aber um Innovationen in die breite Masse zu bringen, ist der Staat oft nicht der geeignete Akteur. Märkte auf der anderen Seite sind zwar aus sich heraus zukunftsblind, aber wenn sie richtig gestaltet sind, können sie im Sinne des Gemeinwohls Großes leisten. Dabei kommt auch dem Staat eine wichtige Aufgabe zu. Privateigentum kann also durchaus gesellschaftlich wünschenswert sein. Eine ganz andere Frage ist es, ob sich Vermögen wirklich immer weiter anhäufen sollte. Auf Dauer muss man die wachsende Ungleichheit der Einkommen verhindern. Dafür braucht es eine aktive Steuerpolitik, die nicht nur die Einkommen besteuert, sondern auch Vermögen.

Wie könnte das Grundgesetz dabei heute dienlich sein?
Also zunächst ist das Grundgesetz eine der besten Verfassungen der Welt, gerade wegen des offenen Verhältnisse zwischen der Demokratie und der Wirtschaftsordnung. Wenn wir irgendwann eine europäische Verfassung bekommen, würde ich mir wünschen, dass genau diese Offenheit zur Wirtschaftsordnung auch dort abzulesen ist. Das ist heute im Lissabon-Vertrag zur Eigentumsordnung zwar garantiert, jedoch nicht zur Wirtschaftsweise. Andererseits findet man natürlich bei jeder Verfassung, wie schön man sie auch finden mag, etwas, das man sich anders wünschen würde. Meiner Ansicht nach liegt die Schwäche nicht so sehr im Bereich des Eigentums, sondern bei der Sozialstaatsverpflichtung. Die ist im Grundgesetz sehr offen und unklar. Diesen Bereich könnte man stärken. Im Moment ist es dem Bundesverfassungsgericht weitgehend überlassen, was es darunter versteht. Und bisher leitet es daraus allein einen Anspruch auf Gesundheitsversorgung und ein Mindestniveau an Einkommen auch für Nicht-Leistungsfähige ab, also etwa Hartz IV. Das ist für einen Sozialstaat doch sehr wenig. Da gibt es andere Verfassungen, die weiter gehen und es ist bedauerlich, dass das Grundgesetz in dieser Frage so unverbindlich geblieben ist.


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Interview: Christopher Dröge

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