Wie eine Völkerwanderung in Sachen Kleinkunst aussieht, wird einmal im Jahr demonstriert: und zwar Richtung Freiburg. Dort findet regelmäßig im Januar die Internationale Kulturbörse statt – und alle fahren hin. Kabarettisten und Comedians, Chansonniers und Magier, Varietékünstler und Poetry Slammer, Veranstalter und Mitarbeiter von Kulturämtern, Musiker und Entertainer. Man kennt sich, man trifft sich. Seit 2008 wird mit der „Freiburger Leiter“ ein weiterer Preis in Sachen Witzischkeit ausgelobt. Genauer: Eine Leiter gibt‘s für Musik, eine andere fürs Theater. Wer die Treppe rauffällt und 1.500 Euro mit nach Hause nimmt, entscheidet das Publikum.
Schön, dass mit Nico Semsrott ein melancholischer Außenseiter im Kapuzenlook gewonnen hat, ein aus der Poetry Slam-Ecke kommender Verseschmied, der nicht die geringsten Anstrengungen unternimmt, sein Missfallen an der Welt da draußen zu kaschieren. Semsrott mosert, meckert und moniert am Leben herum, dass man auf der Stelle das Zeitliche segnen möchte. Oder den Kapitalismus ausrotten. Oder beides gleichzeitig. Wenn – ja wenn sich da nicht die Lust an seiner sprachlichen Klarheit einstellen würde, mit der Semsrott eine Schneise in die Kleinkunst schlägt. Stand up-Tragedy nennt er das, was er unter dem Titel „Freude ist nur ein Mangel an Information“ auf der Bühne zelebriert, ein Solo-Programm, in dem die Leistungsverweigerung gefeiert wird.
Vom Leben gezeichnet ist auch die im Jahr 379 vor Christus geborene Echse, in der im Wortsinn Michael Hatzius steckt: ein schlammfarbenes Reptil, das zusammen mit Aristoteles das Theater der Welt gegründet und seitdem verdammt viel erlebt hat. Was dazu führt, dass es sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lässt. Mit seiner Zigarre im Mund pafft er sich durch die Republik, ohne dass ihm jemand an die Karre fährt. In seinem Alter darf man das – wie Altkanzler Schmidt. „Die Echse und Freunde – das volle Programm“ (am 11.3. in der Comedia) ist so ziemlich das Beste, was das Genre zu bieten hat. Die Puppe als Metapher, ein Wesen, das nicht nur über die Vergangenheit mehr weiß als das Publikum, sie kann auch in die Zukunft blicken – mit Hilfe einer Glaskugel.
Bevor ich vollends ins Schwärmen gerate: Hatzius verschwindet nur scheinbar hinter der Echse. Der an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ ausgebildete Puppenspieler hat nicht nur sein Handwerk gelernt, er weiß auch, warum er es ausübt – und wie es funktioniert. Verblüffend sei es, dass er mit der Klappmaul-Puppe wesentlich heftiger auf den Putz hauen könne als mit dem eigenen Mund. „Die Menschen nehmen ihr nichts übel“, sagt ihm seine Erfahrung. Deren Geheimnis bestehe nicht zuletzt darin, dass so ein animiertes Wesen völlig uneitel sei. „Die Puppe denkt nichts, aber der Zuschauer denkt, dass sie denkt.“
Mehr noch. Man meint sogar, dass sich der Gesichtsausdruck ändern könne. Das Wichtigste an einer Puppe sei der Blick, so Hatzius, „eine gelungene Puppe trägt einen variablen Charakter in sich“. Was nichts anderes bedeutet, als dass sie eine Projektionsfläche für die eigenen Emotionen bieten muss. Anders gesagt: Die Puppe ist ein Medium. Wenn dieses behauptet, Puppenspieler seien blöd, schließt sich der Kreis. Dialektik ist, wenn man sich gleichzeitig totlacht und dabei den Kopf frei bekommt – für neue Einsichten in eine uralte Welt. Das schafft nur die Echse – schwört wie immer hoch und heilig die Ihnen stets ergebene
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