Langsam verstummt draußen die Ü30-Rockband am Alten Mark in Hilden, die so treffend zur gemütlichen Vatertags-Altbier-Runde gespielt hat. Gegenüber liegt die Reformationskirche. Und dort, an einer Nebentür, wo sonst die Messdiener ihren demütigen Gang beginnen, tritt nun das Trio Lichtblick um seinen Bandleader und Klangexperimentator Markus Stockhausen hinaus. Die Altarskerze thront zwischen Stockhausen und Angelo Comisso, dessen Flügel mehr als die Hälfte des heiligen Halbrunds einnimmt. Drummer Christian Thomé ist kaum zu sehen, wenn er Platz nimmt. Musikalisch wird dies aber nicht ins Gewicht fallen.
Stockhausens Affinität zu Konzerten in Kirchen ist bekannt. Im Februar 2000 hat er in Köln die Reihe „Klangvisionen“ ins Leben gerufen. Bereits dort diente ihm die besondere Architektur der St. Maternus Kirche auch als zusätzliches Soundlabor, in dem die komponierten Noten neue Klangeigenschaften entwickeln und so alternative Variationen der eingespielten Stücke erlauben.
Dies wird im ersten Lied „Es war einmal“ vernehmbar. Bei Stockhausen sollen nach den Gästen auch die Töne ihren Platz nehmen. Er tastet sich mit seinem Spiel an das Gebäude ran, langsam setzen sich die Trompetenklänge im Raum und schallen bis unter die gewölbten Decken nach. Dieser Effekt wird von ihm durch Rückkoppelungen aus dem Synthisizer verstärkt. Daraufhin steigt Angelo Comisso mit einer zurückhaltenden Begleitung ein, bevor Christian Thomé Tempo und Lautstärke forciert. Das Ergebnis erinnert an einen Schneeballeffekt. Zum Schluss blähen sich die zunächst märchenhaft verträumten Klänge so auf, dass sogar die luftige Kirche erdrückend wirkt.
Bei diesen im Laufe des Abends wiederkehrenden Parforceritten liegt die Kunst darin, jedem Instrument seinen Resonanzraum zu lassen. Kann dieser nicht abgesteckt werden, verharren die Töne in einem grobstimmigen Brei, der die Musiker weniger harmonieren, als konkurrieren lässt. Dem Trio Lichtblick gelingt es aber, solche Kraftakte nicht ihrer Wirkung zu berauben, sondern sie pointiert als Höhepunkte einer emotionalen wie musikalischen Reise zu setzten. Ein weiteres Beispiel für diese kompositorische Finesse ist das Stück „Wanderungen“. Nicht allein der Titel verweist hier auf eine Nähe zur Romantik, der Aufbau des Liedes erinnert ebenso an die emotionalen Berg- und Talfahrten einer Schumann-Symphonie. Auch ein Kirchenlied kriegt sein Heimspiel, ein bis zur Unkenntlichkeit verfremdetes „Vater unser“. Angelo Comisso hat hier ein außergewöhnliches Solo. Seinen flink gespielten Tonleitern merkt man die Abstammung von den Orgelpassagen sofort an, und dennoch sind sie inmitten der Variationen eine originelle Gradwanderung zwischen Jazz und Klassik.
Das Sonderkonzert des Trios Lichtblick im Rahmen der Hildener Jazztage ist sicherlich keine pure Unterhaltung. Man muss sich für die stilleren, kontemplativen Seiten ihrer Stücke öffnen, bevor das crescendoartige Erlösungsmoment kommt. Doch derartige sakrale Experimentierstunden haben etwas für sich. Ebenso wie die gemütlichen Rocker am Alten Markt in Hilden.
16. Hildener Jazztage I 31.5.-6.6. I Diverse Orte in Hilden
0211 - 27 40 00 I www.hildener-jazztage.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Noise, Rap und Migration
Zwischen Bühne und Buchdeckel – Unterhaltungsmusik 11/24
Psychedelische Universen
Mother‘s Cake im Helios 37 – Musik 10/24
Endlich Wochenende
13. Week-End Fest im Stadtgarten – Musik 10/24
Aggressive Dringlichkeit
Internationale Acts von Rock über Hip Hop bis Avantgarde – Unterhaltungsmusik 10/24
Eine Party für die Traurigen
Romie in der Maulvoll Weinbar – Musik 09/24
Heftiger Herbstauftakt
Nach Open Air wieder volles Programm in Clubs und Hallen – Unterhaltungsmusik 09/24
Kein Bock auf Sitzkonzert
Mdou Moctar im Gebäude 9 – Musik 08/24
Sommerloch? Nicht ganz ...
Volle Packung Drum‘n‘Bass, Indie, Tuareg-Blues und Black Metal – Unterhaltungsmusik 08/24
Die Ruhe im Chaos
Emma Ruth Rundle in Köln und Bochum – Musik 07/24
Vielfalt, Frieden und Respekt
3. Ausgabe von Shalom-Musik.Koeln – Musik 07/24
Fette Beats im Wohngebiet
Green Juice Festival 2024 in Bonn – Musik 07/24
Helldunkler Sommer
Fröhlich und finster lockt die Festivalzeit – Unterhaltungsmusik 07/24
Wie im Moment entstanden
Waxahatchee im Gebäude 9 – Musik 06/24
Und der Tag wird gut
Suzan Köcher‘s Suprafon beim Bonner Museumsmeilenfest – Musik 06/24
Folklore-Crossover
Wundersame Mischungen im Konzert – Unterhaltungsmusik 06/24
Sehnsucht nach Nähe
Nichtseattle im Bumann & Sohn – Musik 05/24
Gesang mit Starqualität
Aka Kelzz im Yuca auf der Kölner c/o Pop – Musik 05/24
An der Front: Sängerinnen
Post Punk neu arrangiert und interpretiert – Unterhaltungsmusik 05/24
„Der Jazz wird politischer und diverser“
Jurymitglied Sophie Emilie Beha über den Deutschen Jazzpreis 2024 – Interview 04/24
Überbordende Energie
Dead Poet Society live im Luxor – Musik 04/24
Kleinteilige Tonalität
Das Festival „Acht Brücken“ erforscht die Zwischentöne – Festival 04/24
In alter Blüte
Internationales Line-up beim Kunst!Rasen Bonn 2024 – Festival 04/24
Geschichtsträchtige Konzerte
Wandelbare Ikonen und perfekte Coverbands – Unterhaltungsmusik 04/24
Einfach mal anders
Das stARTfestival der Bayer AG in Leverkusen geht eigene Wege – Festival 04/24
Von Polen bis zu den Kapverden
Over the Border-Festival in Bonn – Musik 03/24