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Alle Jahre wieder …

03. Dezember 2010

Feste feiern gegen Depression und andere Besinnlichkeiten - THEMA 12/10 WEIHNACHTEN ALS PRAKTISCHES ANTIDEPRESSIVUM

Es weihnachtet wieder. Wie jedes Jahr hofft der Einzelhandel auf den letzten Kundenansturm, um seine Jahresbilanz zu retten und verteilt freigiebig Wunschzettel an den Nachwuchs. Allerorten eröffnen Weihnachtsmärkte. Der örtlichen Beschallung mit den jahreszeitlichen Melodien von „Jingle Bells“ über „Last Christmas“ bis „Stille Nacht“ und „Ihr Kinderlein kommet“ kann man kaum entkommen. Es riecht nach Glühwein.Politiker und Klerikale aller Lager des christlich-jüdischen Kulturkreises predigen Besinnliches. Doch nicht die einschläfernde Rhetorik ist wichtig, Kommunikation und Party retten Leben. Denn entgegen der landläufigen Meinung steigt die Selbstmordrate zu Weihnachten nicht. Sie geht sogar zurück, weil das jahreszeitlich bedingte Feiern mit Freunden und Familie oder auch in Betrieb und Verein die Terminkalender füllt und die suizidale Krise mindestens aufschiebt. Erst im März steigt die Todesquote wieder - sozusagen nach Aschermittwoch. Weihnachten dient also als Basar hilfreicher Antidepressiva. Trotzdem bleibt Depression die Krankheit der Saison. Kein Medium, das sich nicht dem Thema widmet und gute Ratschläge gibt. Wie: einfach weglassen, was dir nicht gut tut, das Schaumbad mit ein paar Duftkerzen verschönern, alles leichter und lockerer sehen oder sich gegen Cash in einer Promi-Privatklinik wieder fit machen lassen für Alltag und Beruf. Eine auch in Köln präsente Sekte predigte schon in den 1980ern: Sei ganz du selbst im Hier und Jetzt. In jedem Fall wird inzwischen professionelle Hilfe zur „Stressprävention“ empfohlen. Dass Leistungszwang, Stress und Depression nur allzu häufig fließend ineinander übergehen, wird nicht wirklich thematisiert, denn Arbeit ist die erste Bürgerpflicht, und Leistung muss sich lohnen.

Burn Baby burn

Im wirklichen Leben ist jedeR verdächtig, der/die ganz ohne Überstunden und ohne Burnout-Symptom auskommt. Vielleicht arbeitet man nicht hart genug, wo die Floskel vom „Hart Arbeiten“ doch selbst von Poldi gepredigt wird. Vielleicht haben die weniger Gestressten ihren Chef nicht wirklich lieb genug oder halten ihn schlicht für einen Idioten. Vielleicht gehen sie nicht in ihrem Praktikum auf oder haben kein rechtes Interesse an der Zukunft ihrer Firma. Tatsächlich steigen psychische Erkrankungen seit zwei Jahrzehnten kontinuierlich an. Nach einschlägigen Schätzungen hat sich der Anteil der Krankheitstage durch psychische Störungen mehr als verdoppelt. Zugleich ist die ganze Gesellschaft einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Gewohnte Zeitrhythmen lösen sich auf, Flexibilität, Erreichbarkeit und Geschwindigkeit in allen Lebenslagen sind das Gebot der Stunde. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zerfließen – nicht nur bei den neuen Selbstständigen. Die einst für die deutsche Mittelschicht typischen Aufstiegshoffnungen zerfleddern, wie der Soziologe Berthold Vogel diagnostiziert: „Das soziale Klima prägt die Erfahrung, dass es nicht mehr viel zu gewinnen, aber sehr viel zu verlieren gilt.“ Noch vor einigen Jahren konnte sich die bundesdeutsche Aufsteigergesellschaft mit Sozialvertrag, Rahmentarifvertrag und der kollektiven Daseinsfürsorge eine gesicherte Zukunft malen. Heute schrumpft in Großbetrieben die Kernbelegschaft zugunsten von billiger Leiharbeit, sogar der Öffentliche Dienst ist zunehmend von befristeter Beschäftigung, Mini- und Ein-Euro-Jobs durchzogen. Jobs auf Abruf haben ebenso zugenommen wie prekäre Arbeitsverhältnisse. Teile der einst stabilen Mittelklasse drohen in eine neue Prekarität abzurutschen oder sind es bereits – da mag der Wirtschaftsminister noch so oft den Aufschwung verkünden. Hinzu kommen die Anforderungen der neuen Wissensökonomie, die zunehmend mehr Bereiche bestimmt.

Und Friede auf Erden

Leistung um jeden Preis und als Ziel befördert nicht nur den individuellen Stress, sondern lohnt sich auch für die ganze Gesellschaft nicht. Verblüffendes Ergebnis einer weltweiten Studie der britischen Wissenschaftler Richard Wilkinson und Kate Pickett: Je größer die Ungleichheit in einem Land, gemessen an der Diskrepanz der Einkommen am oberen und unteren Ende der Gesellschaft, desto größer sind die sozialen Probleme. Ob Kriminalität, Gewalt, Drogenmissbrauch oder schlechte Gesundheit: Staaten mit großen sozialen Ungleichheiten produzieren deutlich mehr davon. Mit dem wachsenden Abstand zwischen Arm und Reich gibt es nicht nur weniger soziale Mobilität, weil Bildung strukturell ungleich verteilt wird. Auch die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen sinkt. Man könnte auch sage: je mehr Ungleichheit, desto mehr Depressive in einer Gesellschaft. Und die soziale Ungleichheit hierzulande nimmt zu. Umgekehrt gilt freilich auch: Mehr Gleichheit in der Gesellschaft hilft mehr gegen Depression als alle Lifestyle-Tipps zusammen. Das wäre dann doch ein frommer Wunsch nicht nur zur Weihnachtszeit – allerseits ein depressionsfreies Fest.



PETER HANEMANN/WOLFGANG HIPPE

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