In einer Kleinstadt im irischen County Donegal gibt es 1994 reichlich Gesprächsstoff: Colette hat ihren Mann für einen Liebhaber in Dublin verlassen. Als ihr Umgang mit den Kindern gefährdet ist, kehrt sie zurück, mietet ein marodes Cottage – und riskiert den endgültigen Bruch: Sie wendet sich verzweifelt an Izzy, die Mutter eines befreundeten Jungen. Sie soll Ausflüge mit den Kindern machen, Colette will sie dabei „zufällig“ treffen. Auch Izzy setzt einiges auf‘s Spiel: Ihr Mann James ist Politiker, seine Partei wirbt für die Legalisierung der Scheidung. Die eigene Ehe: unglücklich und geprägt von James Mühen, keine Fehler in der öffentlichen Wahrnehmung zu machen.
Murrin konzentriert sich auf die Figuren, als atmosphärische Details fungieren Inneneinrichtung und Kampagnen zum angesetzten Referendum: Mit „Scheidung? Jesus sagt nein“ versus „Hallo, Scheidung … Tschüss, Daddy!“ wird plakatiert. Welche Rolle die Kirche spielt, zeigen einige prägnante Szenen. Murrin spürt zudem feinfühlig Wut und Trauer der Kinder nach, die unter den Zerwürfnissen der Eltern leiden. Größtenteils schildert er aber aus weiblicher Perspektive Zwangsgemeinschaften im beengten Setting. Die Frauen können sich aus ihrer bedrückenden Lage nicht befreien, auch ein neues Gesetz würde patriarchale Strukturen nicht einfach beenden. Eine Option wurde die Scheidung dennoch: Eine hauchdünne Mehrheit befürwortete das Referendum 1995.
Im Roman knüpfen die auf ihren Willen bedachte Dichterin Colette und Izzy, der James keine Selbstständigkeit zugesteht, eine zarte Bande, die bald auf die Probe gestellt wird. Es wird noch komplizierter, als Donal regelmäßig ins Cottage schleicht. Seine Frau Dolores ist mit dem vierten Kind schwanger, sie sind auf Colettes Mietzahlungen angewiesen. Für eine größere Entwicklung der Figuren lassen die vielen erzählten Perspektiven nicht genug Raum, der Roman ist vielmehr düsteres Sittenbild. Seine Stärke liegt nicht im Showdown, sondern in Zwischentönen und dem Ringen der Figuren mit sich. Colette trinkt gegen ihren Frust an. Izzy lästert, bevor sie Verständnis entwickelt. Dolores beichtet Mordfantasien. Gerüchte schaden mehr als einer Beziehung. Hier kennt jeder jeden und betont, sich nicht in andere Ehen einmischen zu wollen – und tut es doch.
Coast Road | A.d. Engl. von Anna-Nina Kroll | dtv | 384 S. | 24 Euro
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