choices: Herr Albrecht, was sind die Gründe für den hohen Altersdurchschnitt in Deutschland und was folgt daraus für Gesellschaft und Politik?
Clemens Albrecht: Ich möchte an dieser Stellegerade erst einmal eine Randbemerkung machen: Ihre Frage ist recht typisch unmittelbar vor einer anstehenden Wahl, denn es ist ein sehr interessantes Phänomen, dass gerade vor Bundestagswahlen wieder nationalstaatlich gedacht wird, obwohl wir sonst doch eher europäisch oder gar global denken. In der Realität stellt sich die Frage nach dem demographischen Wandel also weniger für Deutschland, sondern ist eine europäische Frage. So gibt es auf der einen Seite keinen „deutschen“ Arbeitsmarkt mehr, der ist europäisch; auf der anderen Seite ist der Sozialstaat aber immer noch eine nationale Sache. So wird es in der Zukunft unabhängig von den Altersstrukturen auch um die Solidaritäten gehen: Möchte ein junger Italiener, der in Deutschland arbeitet, in 30 Jahren die alten Deutschen durchfüttern (und umgekehrt)? Insofern ist auch dies eigentlich eine europäische Frage. Wenn wir allerdings jetzt dabei bleiben und nationalstaatlich denken wollen, kann man festhalten, dass es Deutschland wie allen Gesellschaften mit hohem Wohlstand geht – es gibt zu wenig Nachwuchs.
„Gerade vor Bundestagswahlen wird wieder nationalstaatlich gedacht“
Ein extremes Beispiel hierfür ist China, aber grundsätzlich ist das ein gemeinsames Problem aller Wohlstandsgesellschaften seit der Antike. Die Folge ist, dass sich die Länder von außen holen, was sie innen nicht haben, also in erster Linie Arbeitskräfte. Deutschland verfährt da nach einem offenen und moralischen System mit Einwanderung über das Asylsystem, England und Frankreich haben starke Migration aufgrund ihrer kolonialen Vergangenheit bereits hinter sich. Deutschland ist in dieser Hinsicht aber als solides Mittelmaß anzusehen.
Sie sprachen gerade den Arbeitsmarkt an. Welche weiteren Themen ergeben sich aus der Altersstruktur?
Ein weiterer Punkt ist der zurückgehende Konsum, denn größere Investitionen wie Kauf oder Bau eines Hauses oder auch größere Anschaffungen wie ein neues Auto finden wir eher bei den Jüngeren. Die Älteren fahren vielleicht etwas häufiger in den Urlaub, sind aber im Alltag sparsamer. Ein weiteres Thema ist natürlich der Klimaschutz, der gerade wieder besonders aktuell ist. Hier muss ich allerdings ganz ehrlich – und vielleicht auch etwas böse – sagen, dass de facto die Jungen eher das Klimaproblem sind als die Alten. Wenn ich mir meine eigenen Kinder anschaue, die inzwischen Mitte 20 sind, stelle ich immer wieder fest, dass ich in dem Alter wesentlich „umweltfreundlicher“ war.
„Man wählt nicht in erster Linie nach eigenen materiellen Interessen“
Das liegt unter anderem an dem erhöhten Stromverbrauch durch die Nutzung der ganzen mobilen Geräte. Ich konnte in dem Alter nur die Lampen an- und ausschalten – mehr Strom habe ich nicht gebraucht. Das Hauptproblem, das wir aber zukünftig durch den demographischen Wandel haben werden, ist eine Verknöcherung der Gesellschaft. Die Politik kann dagegen eigentlich auch gar nichts machen, sondern lediglich reagieren und muss mit den Folgen umgehen. In vielen Dingen führt die Politik jedoch in erster Linie eine Verhinderungsdiskussion. So beispielsweise in der Klimapolitik, in der meines Erachtens viel zu wenig die Frage gestellt wird, wie wir reagieren können, wenn die Erderwärmung nicht so aufzuhalten ist, wie es die gegenwärtigen Ziele wünschen.
Gerade die Klimapolitik ist ein Beispiel für den aktuellen Generationenkonflikt. Man hat den Eindruck, die heutige Jugend sei politischer als frühere Generationen. Die Sorge ist groß, die Älteren, die die Wahlen bestimmen, kümmerten sich wenig um die Zukunft.
Die Annahme, dass man in erster Linie nach eigenen materiellen Interessen wählt, stimmt so nicht. Das belegen mittlerweile auch Umfragen, die besagen, dass ein hoher Prozentsatz der Beamten die Grünen wählen will, obschon diese angekündigt haben, Zusatzleistungen für Beamte abzuschaffen. Hier zeigt sich also, dass auch die ideellen Werte eine große Rolle spielen, wenn nicht sogar vielen sogar wichtiger sind.
„Zur Lösung braucht es auch die ältere Generation“
Historisch gesehen entstehen Jugendbewegungen in Gesellschaften, in denen man sich einig ist, dass etwas anders werden muss. Von Zeit zu Zeit geht von Jugendbewegungen auch ein politischer Impuls aus. Historisch können wir folgende Ziele beobachten: Zunächst dachte die Jugend, in der Entwicklung der Nation liege ihre Zukunft; dann zu Beginn der DDR: in der Entwicklung des Sozialismus; in Westdeutschland gab es die 68er-Bewegung, die erst den demokratischen Sozialismus einführen wollte, dann später vergrünte. Diese Bewegungen sind immer getragen von einem großen Enthusiasmus und einem realistischen Problem wie Verelendung, ökologischen Problemen oder Kapitalismus; aber die Zukunftsvisionen sind selten diejenigen, die dann auch die Zukunft bestimmen. Die Jugend ist an dieser Stelle sehr wichtig, aber häufig auch in ihren Themen sehr einseitig, weil auf ein schmales Ziel konzentriert. Daher braucht es auch die ältere Generation. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Wenn die Jugend – völlig zu Recht – die Verkehrswende fordert, dann ist es zunächst leicht, den Menschen die Autos zu verbieten. Dabei wird häufig aber nicht bedacht, dass sich der Immobilienmarkt vielerorts so gestaltet, dass eine Familie kaum noch so stadtnah wohnen kann, dass sie nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln auskommt. Hier muss dann also an anderer Stelle ein Ausgleich geschaffen werden. Sie sehen also, dass die Thematik sehr komplex ist und zur Lösung braucht es auch die ältere Generation, die im günstigsten Fall ein breiteres Spektrum an sich teils widersprechenden Zielen mitdenkt.
„Den kritischen Verstand des Einzelnen aktivieren“
Verstärkt durch die Corona-Krise wurden Stimmen laut, dass Kinder und Jugendliche in der Politik zu wenig berücksichtigt würden. Wie sieht Ihr Rat an die Politik aus, um zu verhindern, dass eine Generation Politikverdrossener heranwächst?
Mein Rat wäre „Erhaltet das Vertrauen in ein demokratisches System“. Wir können gegenwärtig einen großen Vertrauensverlust gegenüber der Politik beobachten, was sich an der zunehmenden Anzahl von Nicht-Wählern zeigt. Die einst großen Volksparteien sind mittlerweile froh, wenn sie über die 20%-Grenze kommen. Von diesen Wahlergebnissen müssen Sie den Anteil an Nicht-Wählern noch abziehen, um zu sehen, wie wenig die Parteien, die sich mit lächerlichen Zugewinnen zu strahlenden Siegern erklären, dann tatsächlich die deutsche Bevölkerung repräsentieren. Um das Vertrauen zurückzugewinnen, braucht es Offenheit und den politischen Diskurs. Es ist nichts besser und wichtiger, als in Demokratien den kritischen Verstand des Einzelnen zu aktivieren. Dafür braucht es eine größere Offenheit und mehr Möglichkeiten zur Diskussion auch kontroverser Themen. Nur so kann sich auch wieder eine klarere politische Mehrheit ausbilden, die dann auch eine größere Stabilität durch Legitimität ermöglicht.
DEUTSCHLAND OHNE GRÖSSENWAHN - Aktiv im Thema
koelnerfriedensforum.org | Seit über 25 Jahren organisiert das Forum Bündnisse, Bildungsveranstaltungen und öffentliche Aufmerksamkeit zu den Gefahren von Krieg und Militarisierung und für Abrüstung.
museen.nuernberg.de/memorium-nuernberger-prozesse | Im Schwurgerichtssaal des Nürnberger Justizpalasts fanden die Prozesse gegen die Hauptverbrecher des Naziregimes statt. Der Saal ist Teil der umfangreichen Dauerausstellung, die die Prozesse und ihre Folgen dokumentiert.
topographie.de/topographie-des-terrors | Seit fast 35 Jahren dokumentiert und problematisiert die Stiftung in Berlin den nationalsozialistischen Terror.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
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