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Beate Küpper
Foto: Hochschule Niederrhein

„Deutschland ist gespalten“

29. September 2021

Die Sozialpsychologin Beate Küpper über gesellschaftliche Ausgrenzung und Aggression – Teil 3: Interview

choices: Frau Küpper, ist das gesellschaftliche Klima in Deutschland rauer geworden?

Beate Küpper: Jein. Tatsächlich beobachtet der Verfassungsschutz einen erneuten Anstieg von Hass- und Gewalttaten gegenüber marginalisierten sozialen Gruppen und jenen, die sich für Demokratie engagieren und sie repräsentieren. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat im Rahmen einer Studie aus diesem Frühjahr eine Umfrage unter Kommunalpolitiker:innen gemacht. Daraus geht hervor, dass zwei Drittel der Befragten bereits persönlich Bedrohung erlebt haben – eine deutlich gestiegene Zahl, insbesondere im Corona-Jahr. Es gibt bereits die traurigen Fälle, in denen es in Gewalt umgeschlagen ist. Von gesteigerter Aggression berichten auch Polizei, Sanitäter, Amtspersonen und Lehrkräfte. Und viele, die unmittelbar von Hass und Gewalt betroffen sind, berichten aus ihrem Alltag davon, dass Abwertungen, die längere Zeit nur noch leise und verdeckt gesagt wurden, jetzt wieder laut und deutlich zu hören sind. Gleichzeitig sind in der Breite der Bevölkerung abwertende Einstellungen gegenüber Minderheiten zurückgegangen wie Meinungsumfragen wie die der Mitte-Studie nahelegen. Deutschland ist also gespalten, was das betrifft. Gleichwohl hinterlässt der Populismus der letzten Jahre seine Schlierspuren bis weit in die Mitte der Gesellschaft. Die populistische Grunderzählung gegen „das System“ und die korrupten Eliten, die das Volk vermeintlich um das auszubeuten und zu betrügen versuchen, was ihm zusteht, ist inzwischen vielerorts zu hören. Daraus leiten einige die Berechtigung ab, in den Widerstand zu gehen, letztendlich auch mit Hass und Gewalt um die eigene Vormachtstellung zu kämpfen. Zum einen geht es gegen all jene, die als soziale Minderheiten markiert werden, gegen Eingewanderte, Muslime usw., aber auch gegen diejenigen, die sich für eine liberale Demokratie engagieren und ihre Repräsentanten. Durch Corona macht sich zudem inzwischen eine gewisse Frustration breit. Diesen situativen Aspekt von langer Dauer und zunehmendem Unverständnis, dürfen wir nicht vergessen. Wir könnenein gesteigertes Stress-Level der Menschen beobachten, damit verbunden auch dünne Nerven, entsprechend kurz ist bei einigen die Zündschnur.

„Man darf nicht vergessen, es liegen vier Jahre Trump hinter uns“

Eine Polarisierung ist spürbar und politische Extreme scheinen salonfähig. Wie erklären Sie diesen Wandel?

Es werden ganz gezielt Menschen mit populistischen Inhalten bespielt. Das gilt insbesondere für die Neue Rechte, die erklärtermaßen in ihrem Strategiepapier sagen: „Wir machen das unter Mimikry und Selbstverharmlosung“. Sie nutzen auch demokratische Begriffe und geben ihnen einen neuen Inhalt. Meinungsfreiheit oder Widerstand sind gute Beispiele dafür. Ursprünglich kamen sie aus einer linken Ecke und richteten sich damit gegen einen autoritären Staat. Der Staat ist in den letzten Jahren eher weniger autoritär geworden. Das einst linke Narrativ haben die Rechten aber übernommen.

Man darf nicht vergessen, es liegen vier Jahre Trump hinter uns. Wir konnten den Aufstieg der Populisten in vielen Ländern live miterleben. Die Demokratisierung, die wir in vielen Teilen der Welt erlebt haben, schlägt jetzt wieder um. Inzwischen gibt es wieder mehr Staaten weltweit, die autoritär regiert werden.

„Sie versuchen gezielt den Eindruck zu erzeugen, sehr viele zu sein“

Privatdaten öffentlicher Personen, etwa der Anwältin Başay-Yildiz, sind weiter gegeben worden und sie erhielten Drohbriefe. Ist die Hemmschwelle gesunken, Menschen bis in ihren persönlichen Rückzugsraum zu verfolgen?

Alle Studien zeigen, dass Hass-Posts im Internet und gerade so unmittelbare Bedrohungen von einer sehr kleinen, allerdings sehr aktiven Anzahl von Usern vorangetrieben wird. Sie ist vernetzt mit der äußersten Rechten. Sie versuchen auch gezielt den Eindruck zu erzeugen, sehr viele zu sein, was sie letztendlich nicht sind. Ein tatsächliches Problem ist: Es lesen viele Andere im Internet mit, die vielleicht erst einmal ganz zufällig da rein gerutscht sind, in ein Forum oder eine Kommentarspalte. An sie richtet sich der Inhalt. Sie haben plötzlich den Eindruck, dort seien viele, die diese Ansichten teilen und der Hass, der dort verbreitet wird, sei gerechtfertigt – dadurch verschieben sich Normalitäten.

„Das populistische Narrativ: Man hat nicht nur das Recht dazu, sondern ist ein widerständlerischer Held“

Welche Gefahren sehen Sie?

Normen sind nicht einfach Gott gegeben, sondern entwickeln sich immer in Spiegelung mit der Umwelt im Abgleich zu dem was die Anderen machen. Wichtig ist dabei auch, dass das grundpopulistische Narrativ dazu eine Rechtfertigung bietet. Man hat nicht nur das Recht dazu, sondern ist ein widerständlerischer Held, wenn man in diesem Kontext besonders ins Extrem geht. Daraus entwickeln sich klassische gruppendynamische Prozesse, mit denen man jede Kleingruppe radikalisieren kann. Indem man sich nur untereinander austauscht und nur dasselbe hört, entsteht ein eindimensionaler Resonanzraum. „Wiederholung hilft“, wissen wir schon vom Vokabeln lernen. Final will ich von meiner Gruppe Akzeptanz und Gemocht-werden und setze noch einmal einen drauf. In Windeseile haben Sie dann eine Selbstradikalisierung, die sich im Internet beobachten lässt, aber auch in der Wechselwirkung online/offline auf der Straße. Ganz generell lässt sich das als eine Normverschiebung im öffentlichen Raum verstehen: Was man sagt, fühlt, wie viel Wut man empfindet und auch rauslässt. Wir konnten das schon für rechtsmitgeprägte Demonstrationen wie Pegida sehen. Diese Gruppe hat sich auch im Internet gegründet und dann radikalisiert – Durchschnittsbürger:innen liefen neben erkennbaren Rechtsextremen hinter Plakaten mit Galgen für Politiker:innen her und fanden nichts dabei. Ähnliche Phänomene können wir bei den Corona-Protesten der selbsternannten Querdenker beobachten.

„Der Populismus möchte Einfachheit“

Laut einer Forsa-Umfrage von 2020 haben 73 Prozent der Menschen schon einmal Hate Speech im Netz gesehen. Das bedeutet auch, jede:r kann online Opfer von Angriffen werden.

Alles, was aktiv gegen den Populismus geht aber auch, wer komplexes Denken erfordert, wird bekämpft. Christian Drosten ist so zu einer Hassfigur geworden. Er erklärt Sachverhalte ein bisschen komplizierter und sagt auch mal unangenehme Dinge, die Anstrengungen und Einschnitte im gewohnten Leben kosten – Maske tragen und Abstand halten gehören dazu. Das will man nicht hören. Der Populismus möchte Einfachheit. In der Folge werden solche Personen, die uns alle herausfordern mit Veränderung progressiv umzugehen, verbal attackiert. Das zielt auf Wissenschaftler:innen, Politiker:innen, die sich offen gegen Rechtsextreme positionieren wie etwa Walter Lübcke (der im Juni 2019 von einem Rechtsextremisten ermordete Kasseler Regierungspräsident; Anm. d. Red.), und erst Recht auf jene, die noch einen migrantischen Background haben, insbesondere Frauen. Sie können alle ein Lied davon singen, was für eine Hasslawine über sie hinwegrollt. Denn sie haben eine Doppelrolle: Sie stehen als Person exemplarisch für das, wofür sie auch politisch eintreten. Die zunehmende Demokratisierung hat zweierlei mit sich gebracht. Wenn wir in unser Grundgesetz schauen – das gilt ähnlich für alle westlichen Demokratien – haben wir einen hohen Anspruch an Gleichwertigkeit einerseits. Diesen Anspruch erfüllen wir zwar noch lange nicht, aber wir sind besser geworden, indem wir langsam mehr Rechte schaffen. Dass die Gesellschaft auch offener und liberaler geworden ist, bestätigen alle Umfragen. Andererseits verlieren wir diejenigen, die ganz selbstverständlich im Hierarchiesystem aufgrund ihres Seins oben standen, etwas mehr zu sagen hatten und es auch leichter bekommen haben. Umgekehrt erweckt es natürlich auch Ansprüche und Erwartungen derjenigen, die weiter unten standen. Mit dieser zunehmenden Demokratisierung, so positiv wie sie ist, bringt sie auch Konflikte, weil sie letztendlich hierarchieglättend ist entlang der klassischen Unterschiede „race“, „class“ und „gender“. Es gab sie schon immer, doch jetzt werden sie in Frage gestellt und ziehen entsprechende Verteidigungsmechanismen nach sich.

„Es hat ganz viel damit zu tun, wo wir herkommen und welcher Gruppe wir zugeordnet werden“

Was sagen die Zahlen in Bezug auf Arbeitslose?

Viele sind Opfer und Täter zugleich. Denn, wenn wir das Ganze als gesellschaftliches Hierarchiesystem betrachten – das liegt immer vor, entlang von Gruppengrenzen – hat eine:r mehr Chancen, eine:r weniger. Auch wenn wir uns das gern einbilden, das ist nicht individuell. Es hat ganz viel damit zu tun, wo wir herkommen und welcher Gruppe wir zugeordnet werden. Innerhalb der Gruppe zeigt sich dann immer dasselbe Phänomen: Nach oben buckeln, nach unten treten. Und: die Tür hinter sich zumachen. Erinnern wir uns mal an die Kampagne in der Bildzeitung gegen Hartz-IV-Empfänger. Anhand von Beispielen wie etwa Florida-Rolf sollte die Ausbeutung des Sozialsystems gezeigt werden. Auch diesen Trend der Abwertung von Arbeitslosen können wir seit einigen Jahren in der Mitte-Studie sehen. Dazu neigen besonders Menschen, die selbst so wenig verdienen, dass sie nur knapp über dem Hartz-IV-Satz liegen. Ihre Motivation ist dann erst recht Differenz zwischen sich und den Anderen herzustellen – je näher sie ihnen kommen. Das ist ein allgemeines sozialpsychologisches Phänomen – wir versuchen uns über unsere Gruppenzugehörigkeiten aufzuwerten, indem wir andere Gruppen abwerten.

„Es ist ein Problem der ganzen Institution“

Inwiefern ist die Mitte der Gesellschaft gefordert?

Sie ist gefordert, Angegriffene zu schützen. Leider passiert das noch viel zu wenig. Das gilt auch für die Institutionen, in denen wir leben und arbeiten. Wenn Sie in der Schule eine:n Schüler:in haben, die*der angegriffen wird, weil er jüdisch ist, weil sie muslimisch ist, dann ist es allzu häufig, dass das Kind oder der Jugendliche als Problemfall gilt und im schlimmsten Fall sogar von der Schule genommen wird. Die Eltern gelten dann als anstrengend, weil sie Unfrieden stiften, indem sie Veränderung fordern, wenn sie sagen „Das geht nicht, dass mein Kind hier diskriminiert wir“. Die Schule läuft Gefahr, einen schlechten Ruf zu bekommen, sodass die Eltern am Ende noch als Nestbeschmutzer gelten. Was aber dringend nötig wäre, ist, dass die Institution reagiert. Wenn eine:n Schüler:in diskriminiert wird, dann ist es nicht das Problem von Schüler:in – er*sie spürt die unmittelbaren Auswirkungen – es ist ein Problem der ganzen Institution, die dann die Verantwortung übernimmt. Und als solches muss es auch verstanden werden. Zuvorderst muss das Kind, der Jugendliche geschützt werden und dann die Institution reagieren. Dazu gehört auch eine kritische Selbstreflexion subtiler Prozesse und die Planung, was man in Zukunft besser machen kann.


DEUTSCHLAND OHNE GRÖSSENWAHN - Aktiv im Thema

koelnerfriedensforum.org | Seit über 25 Jahren organisiert das Forum Bündnisse, Bildungsveranstaltungen und öffentliche Aufmerksamkeit zu den Gefahren von Krieg und Militarisierung und für Abrüstung.
museen.nuernberg.de/memorium-nuernberger-prozesse | Im Schwurgerichtssaal des Nürnberger Justizpalasts fanden die Prozesse gegen die Hauptverbrecher des Naziregimes statt. Der Saal ist Teil der umfangreichen Dauerausstellung, die die Prozesse und ihre Folgen dokumentiert.
topographie.de/topographie-des-terrors | Seit fast 35 Jahren dokumentiert und problematisiert die Stiftung in Berlin den nationalsozialistischen Terror.

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Interview: Nina Hensch

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