Eineinhalb Jahre Vorlauf hatten die Vorbereitungen zur Ausstellung von Harald Naegeli in der Kulturkirche Ost in Anspruch genommen – deshalb zeigte sich Dirk Kästel von der Wohnungsgesellschaft GAG, die die Kulturkirche betreibt, ein wenig zerknirscht, als er den Gästen der Eröffnung mitteilen musste, dass der Künstler nicht kommen würde: Eine Magenverstimmung hatte Naegeli einen Strich durch die Abendplanung gemacht. Immerhin hatte es Wolfgang Spiller nach Köln geschafft, ohne den die eine Hälfte der Ausstellung nicht möglich gewesen wäre – der Fotograf, ein Vertrauter Naegelis, dokumentiert seit einigen Jahren dessen minimalistische Strichfiguren, die er an den Häuserwänden des öffentlichen Raums hinterlässt, und hatte eine Reihe seiner Fotografien zur Ausstellung beigesteuert. Außerdem war Dr. Irene Daum zur Stelle, die regelmäßig bei Veranstaltungen in der Kulturkirche als Expertin fungiert und Besuchern half, die Bedeutung der wie hingeworfen wirkenden Werke Naegelis einzuordnen.
Denn als „Sprayer von Zürich“ sei Naegeli der Urvater der Street Art, so Daum: „Wenn die Werke von Künstlern wie Banksy heute zu Preisen von mehreren Millionen gehandelt werden, so ist das nur möglich, weil Naegeli Ende der 1970er Jahre damit angefangen hat, die Kunst aus dem Labor des Ateliers in den öffentlichen Raum zu tragen.“ Ein wenig ironisch ist dies schon, denn Naegeli ging es auch darum, die Kunst dem Kommerz zu entziehen. Ein Bild auf einer Häuserwand kann man nicht kaufen oder ersteigern, es ist schlicht für alle da.
1939 in Zürich geboren, hatte Naegeli unter anderem in Paris Kunst und Klavier studiert. Während seiner Studienjahre beschäftigte er sich vor allem mit organischen Formen und wie diese sich in ihre einfachsten Elemente, wie Punkte und Linien aufspalten – eine Methode, die er in seinem Spätwerk wieder aufgriff. Mit dem Sprayen begann er, um ein Zeichen gegen die „Unwirtlichkeit der Städte“ zu setzen, wie es der Psychologe Alexander Mitscherlich in den 1960ern formuliert und damit der Ausstellung auch ihren Titel geliefert hatte: Seine stilisierten Figuren, Tiere und Fabelwesen – bei Nacht und Nebel teilweise in einem einzigen Strich ausgeführt – richteten sich gegen die empfundene Lebensfeindlichkeit der vorherrschenden Architektur und Stadtgestaltung der 1970er, in deren grauer Beton-Ästhetik der Mensch nur als Störfaktor wahrgenommen wurde. Die damaligen Autoritäten hatten jedoch so gar kein Verständnis für derartige Umtriebe und ließen seine Werke möglichst schnell wieder entfernen. So gelangte Nageli Anfang der 1980er weniger durch seine Kunst zu Bekanntheit, als vielmehr durch zahlreiche Anzeigen wegen Sachbeschädigung, wegen denen er schließlich sogar in die BRD floh, wo sein Fall die Diskussion, was Kunst ist/darf, deutlich befeuerte.
Die Ausstellung umfasst jedoch auch Werke aus seinem Spätwerk, in dem sich Naegeli einem deutlich zeitaufwändigeren Ansatz zuwandte, den er die „Urwolke“ nannte: Aus einfachsten Elementen, winzigen Strichen, Linien, Häkchen und Kreisen entstehen in seinen Tusche-Zeichnungen komplexe Muster, die er als „Stenogramme des Unbewussten“ bezeichnet. „Er beginnt ohne einen Plan, oder ein Ziel, und dringt so zu seinem Unterbewusstsein vor – zu etwas, das nicht erklärbar ist, das aber jeder in sich trägt“, sagte Daum.
Spiller, der sich zuvor etwa mit Architekturfotografie beschäftigt hatte, begann etwa 2003, Naegelis Graffiti in Düsseldorf fotografisch festzuhalten – ohne zu ahnen, dass es sich um Werke des Schweizer Künstlers handelte. „Ich kannte Naegeli aus einer Dokumentation und die Ähnlichkeit war mir durchaus aufgefallen. Aber damals dachte ich, wir sind ja hier nicht in Zürich. Dass er inzwischen in Düsseldorf lebte, war mir zuerst nicht bekannt.“ Durch einen Bekannten erfuhr er schließlich, in welchem Düsseldorfer Viertel der zehn Jahre ältere Künstler lebte und machte durch Zufall dessen Wohnung ausfindig. Beim ersten Kontakt sei Naegeli noch recht reserviert gewesen, inzwischen ständen sie jedoch in regem Austausch. „Ich habe durch ihn sehr viel über Kunst gelernt“, meint Spiller, „und er durch mich über Computer.“
Was die Unwirtlichkeit der Städte angeht, so dürfte sich Naegeli über eine Entwicklung freuen, auf die Daum in ihrem Vortrag verwies. So müssen die Architektur-Studenten der Akademie in Venedig seit diesem Semester verpflichtend auch Vorlesungen der Psychologie besuchen. „Bevor sie anfangen zu bauen, müssen sie etwas für die Menschen tun“, so Daum.
Harald Naegeli: „Unwirtlichkeit der Städte“ | 27.10.-10.11., Di-Sa 17-20 Uhr | Kulturkirche Ost, Köln-Buchforst | Eintritt frei
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