Wie eine Bombe platzte 1955 der französische Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“ mit Aufnahmen aus dem KZ Auschwitz in die Nachkriegsgesellschaft. Die deutsche Regierung verlangte, dass er nicht bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigt werde, weil er dem Ansehen der Bundesrepublik schaden könnte. Es kam zur monatelangen Debatte, die deutsche Haltung wurde weltweit kritisiert. Der Skandal diente jedoch als Vehikel, um den Umgang der Deutschen mit ihrer NS-Vergangenheit erstmalig kritisch zu hinterfragen. Die vom Historiker und Publizisten Hannes Heer konzipierte Reihe „Der Skandal als vorlauter Bote“, die von NS-Dokumentationszentrum und Arbeitskreis für intergenerationelle Folgen des Holocaust im Filmforum NRW sowie im Forum Volkshochschule veranstaltet wird, zeigt diesen und weitere Tabubrüche, die in den vergangenen Jahrzehnten die Debatte um die Interpretation der NS-Zeit befeuert haben.
„Die Reihe will Beziehungen herstellen zwischen verschiedenen Ereignissen, die prägend waren für den Umgang mit der Nazigeschichte“, erläutert Hannes Heer, der immer wieder mit dem Leugnen der NS-Verbrechen konfrontiert war. „Der Historiker Norbert Frei hat gezeigt, wie in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft die Schuld an den NS-Verbrechen Adolf Hitler und einer kleinen Clique von Kriegsverbrechern zugeschrieben wurde. Die Bevölkerung als Ganzes wurde von jeglicher Schuld freigesprochen. Man sah die Deutschen als politisch Verführte, die durch den Krieg zu Opfern wurden. Über die Zeit wurde der Mantel des Schweigens gelegt.“ Hannes Heer weist darauf hin, dass sich der erinnerungspolitische Diskurs durch die Skandale verändert habe.
Nach dem Film „Nacht und Nebel“ (18.3., 11 Uhr, Filmforum) thematisiert die Reihe den Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961, Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“, der 1963 die Rolle von Papst Pius XII. kritisch hinterfragte, die Studentenbewegung 1968 als Aufstand gegen die Nazigeneration, die US-Serie „Holocaust“, die 1979 das Thema flächendeckend in deutsche Wohnzimmer brachte, die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard Weizäcker 1985, die zum Historikerstreit über die deutsche Verantwortung für den Holocaust führte, die 1995 eröffnete Ausstellung über die Wehrmacht, die deren Bild nachhaltig veränderte, und schließlich die Rede Martin Walsers 1998, der die „Dauerpräsentation unserer Schande“ angriff und dafür heftig kritisiert wurde. Hanns Heer hält jeweils einen Vortrag, der mit Filmausschnitten ergänzt wird.
„Die Reihe ist wichtig, weil es inzwischen eine starke Gegenströmung gegen die bisherige Geschichtseinschätzung gibt“, erläutert Werner Jung, Direktor des NS-Dok. „Das geschichtspolitische Rollback schließt an die Vätergeneration an.“ Psychotherapeut Peter Pogany-Wnendt, Vorsitzender des Arbeitskreises für intergenerationelle Folgen des Holocaust, meint, dass der Erfolg der AfD zeige, dass die Geschichte noch nicht ganz aufgearbeitet sei, trotz umfangreicher Aufklärung in den letzten 20 Jahren. „Man muss die unbewussten Motive beleuchten. Scham und Schuldgefühle erzeugen einen inneren Druck. Es geht darum, die psychologischen Triebkräfte deutlich zu machen.“ Der Arbeitskreis bringt Nachfahren von Tätern und Opfern in Dialog, um das Schweigen zu überwinden.
Karten für die Sonntags-Matinees der Reihe sind im NS-Dok oder an der Tageskasse des Filmforums NRW erhältlich. Auch ein Abo ist möglich. Insgesamt acht Tabubrüche der deutschen Nachkriegsgeschichte werden präsentiert.
„Der Skandal als vorlauter Bote“ | 18.3., 22.4., 13.5., 10.6. 11 Uhr im Filmforum NRW | 9.9., 14.10., 11.11., 9.12. 11 Uhr im Forum VHS im Museum | Info: NS-Dok
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