Donnerstag, 11. Oktober: Kaum jemandem dürfte bewusst sein, dass die Tage der Sklaverei auch im 21. Jahrhundert noch längst nicht der Vergangenheit angehören und keineswegs auf Dritte-Welt-Länder beschränkt sind. Nach dem Modern Slavery Index werden derzeit weltweit rund 45 Millionen Menschen ausgebeutet, auch in Europa sind es mehr als eine Million Menschen, rund 160.000 allein in Deutschland. Zur Präsentation von Bernadett Tuza-Ritters Dokumentarfilm „A Woman Captured“ erläuterte Jennifer Espinoza von der Menschenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ diese Zahlen. Man unterscheide verschiedene Formen der Sklaverei. So gäbe es den Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung, wie er in Tuza-Ritters Film exemplarisch an der 52jährigen Marisch geschildert wird; den Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung; die organisierte Zwangsbettelei sowie arrangierte Zwangsehen. Genaue Zahlen festzustellen sei natürlich schwierig, da es hier einen hohen Dunkelbereich gibt. „Fakt ist, dass überwiegend Frauen und Minderjährige von den Formen der modernen Sklaverei betroffen sind“, so Espinoza weiter.
Menschenhandel gehe immer mit Täuschung und Bedrohung einher, sowie oftmals mit dem Transport zum Ausbeutungsort. Weitere Kriterien bestünden darin, dass den Betroffenen kein Gehalt gezahlt wird und ihnen oftmals die Ausweispapiere abgenommen werden, weswegen sie den Ort nicht mehr verlassen können, schilderte die „Terre des Femmes“-Beauftragte die aktuelle Situation weiter. Bernadett Tuza-Ritter hatte ihre Protagonistin zufällig über einen Freund kennengelernt und war zunächst von Marisch´s Gesicht fasziniert, das deutlich älter aussah als das einer 50jährigen. Erst bei den Dreharbeiten für einen geplanten fünfminütigen Hochschulfilm erfuhr die Regisseurin, dass Marisch für ihre Arbeiten im Hause Etas nicht bezahlt wird. Sie konnte die Frau überreden, ihre Situation für einen abendfüllenden Dokumentarfilm nachzuzeichnen. Als weiterer Experte äußerte sich am Abend der Filmvorführung Jörg Merle von der DGB Region Köln-Bonn: „Der Film zeigt anschaulich, dass eine wirtschaftliche Notlage eine besondere Gefahr darstellt, ausgebeutet zu werden.“ Aus seinem Arbeitsalltag kennt Merle etliche Beispiele vom Arbeitsstrich in Köln, bei dem ebenfalls prekäre Arbeitsverhältnisse mit Ausbeutung einhergehen. Als konkretes Beispiel nannte er die Kranhäuser im Kölner Rheinauhafen, wo Appartements millionenteuer verkauft wurden. Die von Sub-Sub-Sub-Unternehmen eingesetzten rumänischen Arbeiter vor Ort bekamen für ihre Tätigkeiten keinerlei Geld. Merle unterstrich, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund keine staatliche und auch keine Aufsichtsbehörde sei, weswegen er nur dann tätig werden könne, wenn Menschen mit konkreten Problemen auf ihn zukämen. Aber viele hätten Angst, und für einige von ihnen sei ein solches Leben in der Ausbeutung noch immer besser, als wieder zurück in die Heimat zu gehen.
Beim Publikumsgespräch konkretisierte Bernadett Tuza-Ritter Marisch´s Vorgeschichte, die im Film nur angedeutet wird. Als Mutter von sechs Kindern begann sie, bei einer Familie für Geld zu arbeiten. Im Laufe der Zeit musste sie immer mehr arbeiten, bekam aber immer weniger Geld. Die Familie sperrte Marisch ein, schlug ihr die Zähne aus und drohte auch mit körperlicher Gewalt gegen ihre Kinder, wenn sie sich nicht fügte. Jennifer Espinoza erläuterte, dass hier zwar klar ein Straftatbestand gegeben sei, aber: „Die Polizei ist auf Aussagen der Betroffenen angewiesen, die aber unter permanenter Bedrohung durch die mafiösen Strukturen stehen und deswegen davor zurückschrecken, ihre Peiniger anzuzeigen.“ Aus demselben Grund haben auch Tuza-Ritter und ihr Filmteam darauf verzichtet, Eta anzuzeigen. Sie und ihre Familie entstammen einem kriminellen Milieu, weshalb der Gang zur Polizei das Leben von Marisch massiv bedroht hätte. Im Film sehen wir, wie Marisch den Absprung schafft und aus ihrer Ausbeutung flieht. Dazu Jörg Merle: „Die Dreharbeiten haben bei Edith innerlich eine Veränderung erzeugt, weil sie zum ersten Mal als Mensch wahrgenommen wurde.“ Auch für die Regisseurin liegt darin einer der Kernpunkte der Problematik: „Oft werden die Opfer von Außenstehenden für ihre Situation selbst verantwortlich gemacht, weswegen bei ihnen ein hohes Schamgefühl entsteht, aufgrund dessen sie sich nicht trauen, nach Hilfe zu fragen. Es ist aber wichtig, dass die Opfer wissen, dass sie Hilfe bekommen können und dass es Stellen gibt, an die sie sich wenden können.“
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