„Exit“, „Dignitas“ und „Sterbehilfe Deutschland“ (StHD) sehen in ihrem Angebot, Menschen beim Freitod zu assistieren, eine Dienstleistung. Dienstleistungen sind wie Waren, stehen in einem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf und müssen sich am Markt etablieren. Meist geschieht das – Autos, Müslis und Kopfschmerztabletten beweisen es – übers Marketing. Nur, wie funktioniert Marketing für den Tod? Auf der Homepage von StHD heißt es, die Möglichkeit des Suizids sei „keine Frage des Scheiterns, sondern Ausdruck der individuellen Freiheit“. Entschuldigung, aber das klingt nach: „Selbstoptimierung durch Freitod“.
Hauptziel von StHD ist die Einwirkung auf das „gesellschaftspolitische Umfeld“. Man wolle, heißt es weiter, „das Selbstbestimmungsrecht des Individuums in Deutschland“ so verankern, „wie es in der Schweiz für Menschen am Lebensende selbstverständlich ist“. Da freut sich der Kritiker, endlich wird offen eine Flanke geboten. Die Schweiz ist nicht nur im Anbieten der Dienstleistung Sterbehilfe weiter, nein, die Debatte ist es auch. Die nimmt seit einem Jahr eine Wendung, die Gefahr in sich birgt. Der Schweizer Verein Exit will auch den Altersfreitod legalisiert sehen. Die Debatte ist bereits so weit fortgeschritten, dass sich im September in einer Umfrage 68 Prozent der Bürger für die Möglichkeit des Freitods im Alter aussprachen – auch wenn keine Sterbenskrankheit vorliegt.
Würde sich ein Verein wie StHD auch in Deutschland durchsetzen und sich einen Markt eröffnen, wie es ihn in der Schweiz bereits gibt, würde die Debatte hier über kurz oder lang dieselbe Dynamik entwickeln. Vor dem Hintergrund steigender Altersarmut, Pflegenotstand und zunehmender Vergreisung der Gesellschaft könnte ein Trend ausgelöst werden, der den Druck auf alte Menschen sukzessive erhöhen könnte, lieber freiwillig abzuleben, statt der Renten- und Pflegekasse den Arbeitnehmern und Arbeitgebern zur Last zu fallen.
Doch so weit sind wir in Deutschland noch nicht. Den Befürwortern von Sterbehilfevereinen geht es erst mal darum, sich überhaupt einen Markt erschließen zu dürfen. Wo die Reise dann hingeht, beweist der StHD bereits heute. Für die „Vollmitgliedschaft“ zahlt man 200 Euro im Jahr, darf aber erst nach drei Jahren einen Antrag auf Suizidbegleitung stellen – wahlweise durch Giftcocktail oder Injektionsapparat. Sprachlich schräg kommt der zweite Tarif daher: Die „Lebensmitgliedschaft“ verlangt dem Sterbewilligen nur ein Jahr Wartezeit und 2000 Euro ab. Die letzte Stufe, das Sterbehilfe-Deluxe-Paket, erlaubt das fristlose Ableben für schlappe 7000 Euro.
Es ist bizarr, den Zeitpunkt des Todes an die Höhe eines Mitgliedbeitrags zu koppeln. Die Kommerzialisierung des Freitods ist letztendlich das Ziel. Wer heute über hehre Selbstbestimmung plappert, öffnet morgen dem Trend zur Selbstaufgabe Tür und Tor. Die Blaupause Schweiz macht deutlich, wo die Reise hingehen könnte.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Sanfter Cocktail oder Kopfschuss?
Bei der Sterbehilfe-Debatte kollidieren auch kommerzielle Interessen – THEMA 12/14 LEBENSENDE
„Wir müssen die Sterbehilfe durch ‚Seriensterbehelfer' unterbinden"
Prof. Karl Lauterbach über seinen Vorschlag für den assistierten Freitod – Thema 12/14 Lebensende
Gegen welche Regel?
Intro – Flucht und Segen
Rassismus kostet Wohlstand
Teil 1: Leitartikel – Die Bundesrepublik braucht mehr statt weniger Zuwanderung
„Ein Überbietungswettbewerb zwischen den EU-Staaten“
Teil 1: Interview – Migrationsforscherin Leonie Jantzer über Migration, Flucht und die EU-Asylreform
Ein neues Leben aufbauen
Teil 1: Lokale Initiativen – Der Verein Mosaik Köln Mülheim e.V. arbeitet mit und für Geflüchtete
Schulenbremse
Teil 2: Leitartikel – Was die Krise des Bildungssystems mit Migration zu tun hat
„Die Kategorie Migrationshintergrund hat Macht“
Teil 2: Interview – Migrationsforscher Simon Moses Schleimer über gesellschaftliche Integration in der Schule
Bildung für Benachteiligte
Teil 2: Lokale Initiativen – Der Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe in Bochum
Zum Schlafen und Essen verdammt
Teil 3: Leitartikel – Deutschlands restriktiver Umgang mit ausländischen Arbeitskräften schadet dem Land
„Es braucht Kümmerer-Strukturen auf kommunaler Ebene“
Teil 3: Interview – Soziologe Michael Sauer über Migration und Arbeitsmarktpolitik
Ankommen auch im Beruf
Teil 3: Lokale Initiativen – Bildungsangebote für Geflüchtete und Zugewanderte bei der GESA
Das Recht jedes Menschen
Die Flüchtlings-NGO Aditus Foundation auf Malta – Europa-Vorbild Malta
German Obstacle
Hindernislauf zur deutschen Staatsbürgerschaft – Glosse
Weihnachtswarnung
Intro – Erinnerte Zukunft
Aus Alt mach Neu
Teil 1: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
„Früher war Einkaufen ein sozialer Anlass“
Teil 1: Interview – Wirtschaftspsychologe Christian Fichter über Konsum und Nostalgie
Spenden ohne Umweg
Teil 1: Lokale Initiativen – Das Netzwerk 2. Hand Köln organisiert Sachspenden vor Ort
„Nostalgie verschafft uns eine Atempause“
Teil 2: Interview – Medienpsychologe Tim Wulf über Nostalgie und Politik
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 2: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Lebendige Denkmäler
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Route Industriekultur als Brücke zwischen Gestern und Heute
Glücklich erinnert
Teil 3: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
„Erinnerung ist anfällig für Verzerrungen“
Teil 3: Interview – Psychologe Lars Schwabe über unseren Blick auf Vergangenheit und Gegenwart
Zivilcourage altert nicht
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Verein zur Erforschung der Sozialen Bewegungen im Wuppertal
Unglaublich, aber essbar
Todmorden und die Idee der „essbaren Stadt“ – Europa-Vorbild England