Man soll Filme eigentlich nicht miteinander vergleichen. Doch mitunter muss man es tun, um ihre Wirkung und ihre Machart hervorzuheben. Am Sonntagabend gewann Bernadett Tuza-Ritters „A Woman Captured“ den mit 1.000 Euro dotierten choices-Publikumspreis des diesjährigen Internationalen Frauenfilmfestivals. Das letztmalig unter der Leitung von Silke Räbiger veranstaltete Filmfestival zeigte sich dabei nicht nur inhaltlich in Bestform, sondern zog auch mehr Besucher denn je an.
Tuza-Ritter, die am gleichen Abend den Social Awareness Award des Linzer Filmfestivals crossing europe erhielt, folgt in „A Woman Captured“ einer 52-jährigen Arbeitssklavin namens Marish. Elf Jahre lang arbeitet diese für eine Familie, schuftet von früh bis spät, muss ihren Lohn abgeben und ist praktisch gefangen. Die Regisseurin ermutigt Marish zum Ausbruch. Der erstmals auf dem Sundance-Festival gezeigte Film wurde vom Kölner Publikum zum besten Langfilm des Festivals gekürt - und offenbarte dabei die Relevanz und Stärke eines mutigen, wahrhaftigen, weiblichen Dokumentarkinos. Ohne Zweifel hat Tuza-Ritter mit ihrem Engagement nicht nur einen außergewöhnlichen Film geschaffen, sondern andererseits, was womöglich mehr wiegt, auch die Befreiung einer gefangenen Frau erreicht.
Vergleicht man „A Woman Captured“ mit der am Donnerstag startenden, männlichen Gesellschaftssatire „HERRliche Zeiten“, in der Oskar Roehler, nach einer Idee des umstrittenen AfD-Werbers Thor Kunkel, das Thema des modernen Sklaventums von der Villenseite her aufrollt, co-produziert vom WDR, der just an diesem Sonntag, nur ein paar Meter von der Preisverleihung entfernt, seinen langjährigen Redaktionsleiter Gebhard Henke wegen Vorwürfen sexueller Belästigung freistellen musste, wird deutlich, warum das Internationale Frauenfilmfestival wieder einmal seiner Zeit voraus ist. Tuza-Ritter gelingt anhand einer geplanten Beobachtung ein fast interaktives Kino, denn die Protagonistin, deren Leben sie bis zur Schmerzgrenze erforscht und abbildet, wagt, ermutigt durch die gemeinsamen Reflexionen mit der Filmemacherin, schließlich den Schritt in die Freiheit. Das ist in der Tat mehr als es eine misanthrophische Satire kann oder will. Es ist aber auch eine unglaublich starke Forderung ans Kino, das sich mit einem Film wie „A Woman Captured“ fit für die Zukunft und eine neue Wahrhaftigkeit macht. Das Einsetzen für und dann sogar Umsetzen von Veränderung, alles binnen eines einzigen Filmprojekts, kann jeden fiktiven Spielfilm schlagen. Was für ein (Publikums-)Statement, das auch die jahrelange Stoßrichtung des Frauenfilmfestivals und die Ära Silke Räbigers spiegelt. Räbiger wurde für ihre drei Jahrzehnte währende Arbeit mit Standing Ovations verabschiedet, auch von Filmstiftungs-Chefin Petra Müller.
Der Kölner Co-Produzent Martin Roelly nahm stellvertretend für Bernadett Tuza-Ritter den Publikumspreis entgegen. Roelly wird den Film zusammen mit dem Partisan-Filmverleih ab Oktober in ausgewählte Kinos bringen. Der Hauptpreis der Jury um Muriel Coulin („Die Welt sehen“), die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi („Körper und Seele“) sowie die österreichische Schauspielerin Ursula Strauss ging an Carla Simóns „Fridas Sommer“.
Infos zu allen Preisträgerinnen: www.frauenfilmfestival.eu
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