Dienstag, 20. September: Nach seiner Deutschlandpremiere auf dem Filmfest München im Juni war es eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass die Vorab-Premiere vor dem Kinostart von „Mutter“ in Köln abgehalten werden musste. Denn für die meisten Beteiligten wurde sie dadurch zu einer Heimpremiere. Ingmar Trosts Produktionsfirma Sutor Kolonko hat ihren Sitz genauso in der Domstadt wie Holger Recktenwalds Verleihfirma Mindjazz Pictures, die Regisseurin Carolin Schmitz kommt aus Köln und auch Anke Engelke hat hier längst ihre künstlerische und private Heimat gefunden. Dass es gleichwohl nicht einfach war, „Mutter“ als ungewöhnliche Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm zu realisieren, machten die Beteiligten schon vor der feierlichen Projektion auf der Bühne des Odeon-Kinos deutlich. Recktenwald dankte seinem ganzen Team, denn es sei „immer viel Arbeit, einen Film ins Kino zu bringen, gerade im Arthouse-Bereich.“ Und auch die Filmemacherin Carolin Schmitz räumte ein, dass bei der Produktion schon alles ein bisschen zäh abgelaufen sei, Produzent Ingmar Trost aber nicht aufgegeben habe. Anke Engelke verriet beim Publikumsgespräch, dass sie von Anfang an vom Projekt begeistert gewesen sei, obwohl „Carolin Schmitz sagt, dass das nicht stimme, und dass sie mich erst für den Film gewinnen musste.“ Verständlich wäre das, denn in „Mutter“ musste Engelke wahrlich Außergewöhnliches leisten. Sie hat im Film lippensynchron die Interviewtexte von acht Frauen wiedergegeben, die nie auf der Leinwand zu sehen, sondern lediglich auf der Audiospur präsent sind.
Ein interessantes und überraschendes Projekt
Nicht nur, dass bei der „synchronen Darstellung“ jedes Schnaufen, jede Pause und jeder Versprecher von Anke Engelke akkurat nachgespielt werden mussten, hatte sich Carolin Schmitz zusätzlich Dinge ausgedacht, die die Schauspielerin parallel dazu vor der Kamera verrichten musste – vom Wäschefalten über das Einkaufen im Supermarkt bis hin zum Kaninchen versorgen oder dem morgendlichen Haare waschen in der Badewanne. Das sei Engelke nur gelungen, weil sie das zentrale Nervensystem dafür vom Rest ihres Körpers getrennt habe. Dass es sich bei „Mutter“ um ein „interessantes und überraschendes Projekt“ gehandelt habe, was ihrem „Arbeiten sehr entgegen kam“, hatte die Schauspielerin und Moderatorin schon schnell erkannt. Auch die Chemie mit Carolin Schmitz stimmte bereits bei der ersten Begegnung. Unterschätzt hatte sie allerdings, dass sie allein drei Monate ihres Lebens damit beschäftigt sein würde, die Texte bis aufs kleinste I-Tüpfelchen auswendig zu lernen. Vor jedem Drehtag sei Engelke deswegen noch einmal mit dem Originalinterview auf den Ohren laufen gegangen, um den exakten Rhythmus und das Setzen einer jeden Pause passgenau zu verinnerlichen. Auch der eigentliche Dreh sei dann recht ungewöhnlich abgelaufen. Anke erzählte im Odeon-Kino, dass die Originalstimme der Mütter aus einer Box abgespielt wurden und sie diese richtig laut mitsprach, weil man es ansonsten gesehen hätte, dass sie lediglich ihren Mund bewegt. Aber: „Die Anke-Stimme interessierte niemanden“, weswegen diese Aufnahmen dann lediglich visuell Verwendung im Film fanden. Zu den Original-Stimmen der Mütter brauchte es dann für den fertigen Film aber auch noch die atmosphärischen Geräusche einer jeden Szene, weswegen es jeweils einen zweiten Durchlauf gab, bei dem dann nur diese noch einmal aufgezeichnet wurden.
Die Gesichter hinter den Stimmen
Für die Schauspielerin war von Anfang an eines klar: „Es stand nie zur Debatte, die Frauen kennenzulernen oder auch nur zu wissen, wie sie aussehen. Mir genügte der Ton“, so Anke Engelke. Umso größer war für sie dann die Überraschung, dass sich fünf der acht Frauen zur Köln-Premiere eingefunden hatten und dann ebenfalls auf die Bühne geholt wurden. Sie erläuterten, dass die Interviews mit ihnen bereits vor rund zehn Jahren stattgefunden hätten. Carolin Schmitz hatte damals in Zeitungen inseriert und nach Müttern gesucht, die über ihre Erfahrungen vor der Kamera berichten wollten. Die Resonanz darauf sei ganz ansehnlich gewesen. Schmitz führte ihr damaliges Vorgehen dann etwas genauer aus: „Bei ersten Telefongesprächen mit den Interessentinnen habe ich versucht, herauszufinden, ob sie auch gerne reden, weil das eine der Voraussetzungen für das Interview war. Außerdem war mir auch wichtig, dass meine Gesprächspartnerinnen gerne Mütter geworden sind.“ Anke Engelke zeigte sich begeistert, nun endlich auch die Gesichter hinter den Stimmen zum ersten Mal zu sehen zu bekommen, denn auch bei den Aufnahmen hätte sie sich keine Gesichter zu den Audioclips vorgestellt, „sondern den Fokus nur auf die Geschichten der Frauen gelegt.“ Dass sich Engelkes Gesicht im Laufe des Films bei den unterschiedlichen Segmenten doch immer wieder verändert und an die jeweilige Sprecherin anpasst, habe viel mit dem jeweiligen Duktus und der Art des Sprechens der Interviewten zu tun. „Dialekte machen was mit dem Gesicht, das habe ich bei diesem Projekt gemerkt“, ergänzte die Darstellerin, die darüber hinaus ihre Bereitschaft signalisierte, für ein ähnliches Projekt auch in Zukunft wieder zur Verfügung zu stehen. Davon, wie außergewöhnlich „Mutter“ geworden ist, kann man sich ab dem 29. September überzeugen, wenn der Film regulär in den Kinos anlaufen wird.
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