Eigentlich verstehe ich es nicht wirklich, meinte mein Bekannter und nahm einen Schluck. Erst heißt es andauernd, die Mittelschicht ist durch die Krise bedroht, ihr Armutsrisiko steigt, und Hartz IV ist die Zukunft. Jetzt lese ich, der Mittelstand kommt besser durch die Krise als die große Wirtschaft. Ich sehe da keinen Widerspruch, sagte ich. Mittelstand bist du auch, wenn du 100 Millionen Umsatz machst. Mittelschicht sind auch Leute wie du und ich. Außerdem fühlt sich die Mittelschicht schon länger bedroht, mindestens seit der letzten Krise vor der aktuellen Weltwirtschaftskrise. Wir schwiegen und tranken. Stimmt, meinte er nach ein paar Momenten. Ich erinnere mich, das muss mindestens fünf Jahre her sein. Da hat man begonnen, die Verlotterung der Sitten zu beklagen und die Werte eingeklagt, Ethik, Moral, Disziplin, die ganzen Sachen. Der ehrliche Kaufmann als Leitbild und die bürgerliche Familie als Lebensentwurf. Und, warf ich ein, „68“ war Schuld am Werteverfall, die haben die Familie als patriarchale Terrorgemeinschaft diffamiert und ... Er fiel mir ins Wort. Die Banker müssen sich damals auf dem Boden gewälzt haben vor Lachen, als sie ihre Boni kassierten. Wahrscheinlich rechnet man die auch zur Mittelschicht, sagte ich. Klar, und jetzt droht denen auch Hartz IV. Wir lachten.
In diesem Moment gesellte sich Fritz zu uns. Gute Laune trotz der Krise? Er grinste und bestellte seinen üblichen Rotwein. Wie man’s nimmt, sagte mein Bekannter. Wir reden über die Krise und bürgerliche Werte. Verstehe, meinte Fritz, die neue Bürgerlichkeit, da sitzt die Avantgarde aber in Bonn. Wir blickten ihn fragend an. Klar, sagte er. Guido hat sich an die Spitze des bürgerlichen Lagers gesetzt. Erst hat er seine Schwiegermutter geoutet, dann öffentlich bedauert, dass er keine Kinder gezeugt hat. Fritz schnippte mit den Fingern. Dann hat er sich als evangelischer Christ zu erkennen gegeben. Und dann hat er mehr Geld für die Kultur gefordert. Kann man die neue Bürgerlichkeit schöner inszenieren? Das mit den Kindern finde ich apart, meinte mein Bekannter. Aber Herr Gott, es ist Wahlkampf, und Westerwelle will einfach Außenminister werden. Heute ist nun mal Seriosität statt Spaßpartei angesagt. Man muss ehrlich sein zu seinen Wählern, stimmte ich zu. Ach Scheiß, wisst ihr, was auch zu den konservativen Werten gehört? Die Kunst der Verdrängung, Fritz war nicht mehr zu bremsen. Wie einst Opa und Oma ihre Verbundenheit mit dem NS-System beschwiegen haben, verdrängt man jetzt den ganzen neoliberalen Dreck. Musst du gleich die Faschismus-Keule rausholen, tadelte ich. Fritz schnaubte. Brauch ich gar nicht. Nehmen wir doch einfach Richard von Weizsäcker, der war Berliner Bürgermeister, Bundespräsident und Präsident des Evangelischen Kirchentags und ist über jeden Faschismusverdacht erhaben. Ja und? fragte mein Bekannter. Weizsäcker war auch in der Geschäftsführung von C.H. Boehringer, ihr wisst, das Chemieunternehmen, sagte Fritz. Als Weizsäcker dort Chef war, haben die in den 1960ern zusammen mit Dow Chemical „agent orange“ hergestellt, und die US-Army hat das Giftgas über Vietnam versprüht. „Solange der Vietnamkrieg andauert, sind keine Absatzschwierigkeiten zu erwarten“, hat Boehringer damals verlautbart. Mit dem Gas sind über 7 Millionen Menschen ermordet worden, vor allem Zivilisten, Frauen und Kinder. Und: In „agent orange“ ist Dioxin enthalten, das schädigt das menschliche Erbgut eine Million mal mehr als Contergan. Die Krüppel werden noch lange in Vietnam zu besichtigen sein. Das wäre mal ein Thema. Wie sie so sind, unsere wertkonservativen Honoratioren. Ganz egal, welches Etikett draufgepappt wird. Wir schwiegen und tranken.
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