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Heinrich Oberreuter
Foto: Akademie für Politische Bildung Tutzing

„Im Bundesrat haben wir längst Thüringen“

09. April 2020

Politologe Heinrich Oberreuter über den Bundesrat gestern und heute

choices: Herr Oberreuter, wie arbeitet der Bundesrat?

Heinrich Oberreuter: Der Bundesrat ist die administrativ-parlamentarische Vertretung der Länder. Er setzt sich zusammen aus Delegierten der Länderregierungen. Das heißt, es handelt sich nicht um direkt gewählte Mandatsträger. Das unterscheidet ihn zum Beispiel vom amerikanischen Senat. Die Organisation des Bundesrats war ja eine große Auseinandersetzung bei der Grundgesetzgebung, denn Konrad Adenauer hatte einen Bundesrat nach amerikanischen Senatsprinzip favorisiert, also direkt gewählte Abgeordnete, und damit auch die Übertragung der parteipolitischen Orientierung auf die Bundesebene, während von Bayern ausgehend das andere Model favorisiert wurde. Bayern und Nordrhein-Westfalen einigten sich letztlich auf das administrativ ausgerichtete Bundesratsmodel. Die Länder, die sich hinter diesem Konzept versammelt haben, wollten als Landesregierungen Einspruchs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten auf der Bundesebene haben. Hätten sie pro Land ein, zwei gewählte Senatoren gehabt, wären dies Parteivertreter gewesen und die hätten nicht unbedingt den Willen der Landesregierung vertreten, sondern sie hätten sich parteipolitisch positioniert undzwar von Grund auf. Das kann gegenwärtig auch passieren, aber es ist eben gegenwärtig beides möglich: das Einsetzen nach parteipolitischen Positionen und nach landesadministrativen Positionen.

Unterscheidet das den Bundesrat auch von anderen Zweikammer-Systemen, wie in England oder den USA?

Na ja, wenn ich an den Senat in Frankreich oder Italien denke oder an die USA, die sind alle direkt gewählt. Für das Delegationsprinzip des Bundesrats fällt mir hingegen kein zweites Beispiel ein – das englische Oberhaus etwa basiert auf anderen Grundlagen, spielt aber auch bestenfalls eine symbolische Rolle und kann als Machtfaktor außen vor gelassen werden. Auch die Eidgenossen in der Schweiz verfahren natürlich so, dass sie direkt gewählte Kantonsvertreter in die zweite Kammer schicken. Also diese Selbstdelegation der jeweiligen Länder in den Bundesrat dürfte tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal sein.

Was trifft eher zu: Streiten im Bundesrat die Länder untereinander oder positionieren sie sich gemeinsam gegenüber dem Bund?

Ich glaube, es ist mehr ein Ort der Repräsentation der Länderinteressen und der Versuch, diese zur Geltung zu bringen. Der primäre Gedanke ist, dass sich die föderale Eigenständigkeit ausdrückt und der nächste Gedanke ist natürlich, dass nicht in jedem Bundesland die gleiche Grundeinstellung oder gleiche politisch Option da sein muss. Das heißt im Klartext, obwohl ich von Landesinteressen ausgehe, gibt es unterschiedliche förderale Interessen. Es gibt zum Beispiel seit ewigen Zeiten einen Disput zwischen den leistungsstarken Ländern und den weniger leistungsstarken Ländern, völlig unabhängig davon, wie die Mehrheiten dort bestellt sind. Das heißt, wenn man zum Beispiel die Frage nach der Verlagerung von konkreten Gesetzgebungskompetenzen vom Bund zurück zu den Ländern betrachtet – eine Sache, die vor zehn Jahren bei der letzten Förderalismus-Reform thematisiert wurde – wurde diese deutlich nach Selbsteinschätzung beantwortet: Die leistungsstarken Länder wollten mehr Kompetenzen und die leistungsschwächeren wollten sie gar nicht, weil sie befürchteten, damit nicht viel anfangen zu können, weil ihnen die finanzielle oder administrative Kapazität fehlt. Natürlich ist es auch immer wieder vorgekommen, dass sich der Bundesrat parteipolitisch positioniert hat – dass es regierungsnahe oder oppositionsnahe Mehrheiten gegeben hat, dass also ein vom Föderalismus abgekoppeltes politisches Interesse zum Ausdruck kommt. Im Moment ist es natürlich ganz verrückt, weil die schwarzrote Koalition im Bundesrat gerade neun Stimmen hat. Es ist so bunt, dass man eigentlich gar keine Prognose abgeben kann, wie Bundesratsentscheidungen ausgehen, weil sowohl Blockaden als auch ein Durchwinken relativ schwer zu organisieren sind. Ganz anders als zum Beispiel Mitte der Neunziger Jahre, in der Endphase der Kanzlerschaft Kohl und im Vorfeld der Wahl von 1998. Da hatte die SPD eine starke Position im Bundesrat, so dass Lafontaine ihn als Gegengewicht positionieren konnte. Da konnte die Regierung nichts mehr durchbringen.

Wie steht es um die öffentliche Wahrnehmung des Bundesrates?

Man könnte sagen, er wird noch weniger wahrgenommen als der Bundestag. Der Bundesrat ist ja im Wesentlichen ein Gesetzgebungsinstrument und auch die normale Gesetzgebungsarbeit des Bundestages wird nur in Ausnahmen wahrgenommen. Früher waren parlamentarische Verhandlungen eine Sensation und jetzt muss es eine Sensation in den Verhandlungen geben, damit sie öffentlich werden. Die gesetzgeberische Arbeit entfaltet wenig Attraktivität. Das heißt im Klartext, der Bundesrat rückt nur dann ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn sich eine Entscheidungssituation Spitz auf Knopf ergibt, was bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen ohnehin schwierig ist. Erinnern sie sich an die Abstimmung über Tempobegrenzungen auf der Autobahn: Da gab es kein Ergebnis und auch keine große Resonanz, obwohl gerade alle Welt über den Klimawandel redet. Also, die gesetzgeberische Arbeit des Bundesrates, oder überhaupt, hat kaum öffentliche Resonanz.

Die vielfältigeren Länderkoalitionen erschweren die Mehrheitsfindung. Was folgt daraus?

Man kann es beobachten im Kontext der Fragmentierung des Parteiensystems. Das heißt im Klartext, es ist ein Prozess, der jetzt seit zwei Wahlperioden anhält. Im Momente sind wir da auf einem Gipfelpunkt angelangt – im Bundesrat haben wir längst Thüringen, sag ich mal. Im Klartext heißt es, dass es schwierig wird, Entscheidungen zu prognostizieren oder auch herbeizuführen. Wenn es strittig ist, wenn Koalitionen auf Länderebene keine Entscheidung treffen können, weil sich etwa schwarz und grün nicht einigen können, dann ist es üblich, dass sich das Land im Rat enthält, was zu schwierigen Entscheidungsprozeduren führt. Gegenwärtig heißt eine Enthaltung praktisch nein, weshalb der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble vorgeschlagen hat, man soll die Stimmen als nicht abgegeben werten.

Was halten Sie davon?

Ob das zu einer Konsequenz auf Länderebene kommt, halte ich für zweifelhaft, weil nämlich dann das parteipolitische Prinzip dem institutionellen Prinzip widerspricht und im Endeffekt natürlich die in das System eingebundenen Parteipolitiker ihren parteipolitischen Positionen Priorität verleihen und nicht institutionellen Ideen.

Was schlagen Sie vor?

Den Vorschlag von Schäuble halte ich jedenfalls für undurchführbar, einen anderen sehe ich jedoch auch nicht. Sie müssten die ganze Konstruktion verändern, aber dafür gibt es keinen Aufbruch. Wenn wir einen Bundessenat hätten und keinen Bundesrat, dann wäre es vielleicht einfacher, politische Mehrheiten zu versammeln, das wäre für mich die einzige Alternative. Das ist abstrakt denkbar aber politisch nicht durchführbar. Wir haben ja immer noch die Möglichkeit, dass sich trotz dieser politischen Verschiedenheiten Bundesratsmehrheiten bilden, die gegen die Parlamentsmehrheiten stehen, was dann zu den berühmten Vermittlungsverfahren führt, in denen intransparent und kaum nachvollziehbar zwischen den beiden Institutionen Kompromisse gebildet werden. Da ist der Vermittlungsausschuss so etwas wie der Rat der Weisen, der relativ eigenständig agieren kann.

Welche Rolle spielt der Bundesrat bei Großprojekten wie Energiewende und Klimaschutz?

Der Bundesrat kann nur eine Rolle spielen, sofern er Zuständigkeiten hat. Jetzt müsste man nachsehen, wie sich im Bereich von Energie und Klimaschutz die Kompetenzen verteilen, offenbar haben wir hier aber auch hier ein Mischsystem, denn die Bayern können ja zum Beispiel Abstandsregelungen für Windräder etablieren – wobei ja auch Landschaftsschutzregeln eine Rolle spielen können und gar nicht so sehr die Energiewende. Ich würde sagen, der Bundesrat kann nur im Rahmen seiner Kompetenzen tätig werden und dann wird es natürlich davon abhängen, wie die politischen Optionen auf der Länderebene sind. Da stehen wir vor einer Herausforderung: Setzt sich ein gesunder politischer Menschenverstand durch, oder sind die Gegenpositionen gegen modernisierende Zielvergaben so ausgeprägt, dass eben wieder keine Entscheidung zustande kommt. Wobei ich mir, wenn ich etwa an die Ergrünung von Herrn Söder denke, eigentlich nicht vorstellen kann, dass etwa Bayern seine Stellung im Bundesrat gebraucht, um moderne klimapolitische Projekte abzustoppen. Das ist mehr eine Frage der politischen Opportunität. So wirkt der Bundesrat auf den Feldern seiner Kompetenzen, aber eben nicht darüber hinaus, denn er ist kein politisches Diskussionsgremium, sondern ein Gesetzgebungsorgan.


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