Die eine erzählt, wie sie als Kind die streitenden Eltern versöhnt hat, der andere, wie er auf See Grüße von der Mutter aus Köln per Kurzwelle empfing. Eine DDR-Flüchtige kam in ihrer neuen Mosel-Heimat nie an, ein anderer war zwischen Italien und Deutschland zerrissen. Schlesier erzählen Geschichten von Vertreibung und Flucht. Dazu werden Lieder gesungen: Lieder der Mutter, der Familie, der Ortsgemeinschaft. Lieder, die jeder aus seiner Kindheit kennt. Im neuen Improvisationsstücks „Lebenslied“ des Altentheaterensembles, das am 6. Mai im Freien Werkstatt Theater uraufgeführt wurde, dreht sich alles um das Gefühl von Heimat und Geborgenheit auf der einen, Heimatverlust und Fremdheit auf der anderen Seite.
Ingrid Berzau, künstlerische Leiterin des Ensembles, hatte die Idee dazu in ihrer bayrischen Heimat. Das Stück selbst wurde aus den Erinnerungen der Ensemblemitglieder erarbeitet. „Wir haben sehr viel improvisiert. Dabei sind Lieder aufgetaucht. Man merkte, welches Lied für den Betreffenden eine tiefere Bedeutung hat. Dem bin ich nachgegangen“, erklärt Berzau den Entstehungsprozess. „Ich habe sehr viel Material gesammelt. Es wurden immer Tonaufzeichnungen gemacht, um den genauen Wortlaut zu bewahren. Auf dieser Grundlage habe ich dann das Stück geschrieben.“

Das FWT-Altentheaterensemble umfasst derzeit 26 Personen im Alter zwischen 64 und 94, manche sind schon seit über 20 Jahren dabei, manche erst seit einem halben Jahr. „Es ist eine Herausforderung mit so vielen, die aus verschiedenen Richtungen und Berufen kommen“, sagt Berzau. „Man muss deren unterschiedliche Möglichkeiten berücksichtigen. Wichtig ist, den Ensemblegeist zu schulen. Das ist eine ständige Aufgabe.“ Otto Straznicky, mit 94 Jahren der Älteste, singt Lieder aus seiner Wiener Heimat und hat bei Frauen den Schmäh immer noch drauf. Er sagt: „Das Theater gibt mir Kraft und Lebendigkeit. Ohne das Spielen gäb‘s mich vermutlich nicht mehr. Mein Arzt meint, ich soll unbedingt weitermachen.“

In den Szenen, die sparsam aber effektvoll mit Accessoires, Deko und Licht aufgepeppt werden, kommen Wut, Trauer, Schmerz, Sehnsucht, Hoffnung und Liebe zum Ausdruck. Geschichten von Eltern, Großeltern, Gerüchen und Gerichten der Heimat berühren. Häufiger Zwischenapplaus zeigt, dass die Zuschauer sich im Geschilderten wiederfinden. Auch heute sind Lebensläufe brüchig: Der Wohnort folgt der Arbeitsstelle, dem Partner, familiären Umbrüchen. „Es war glücklicher Zufall, dass gleich zwei aus Schlesien Vertriebene ihre Geschichte erzählen“, so Berzau. Der alte Mann wird heute von einer Polin betreut, die aus seiner schlesischen Heimat stammt. Er unterhält sich mit ihr, lernt polnisch. „Es war mir wichtig, das ins Heute einzuordnen. Eine spannende Auseinandersetzung angesichts des Verhältnisses Polens zur EU“, erklärt die Regisseurin. Die Lieder haben die Mitglieder unter Anleitung der Musikdramaturgin Sabine Falter erarbeitet. „Bei der Probe hat jeder sein Lied perfekt gesungen, selbst jene, die meinten, nicht singen zu können“, sagt Berzau. „Weil es einfach authentisch war.“ Bei vielen Liedern sang das Publikum mit – Zeichen des Wiedererkennens und der Identifikation.
„Lebenslied“ | R: Ingrid Berzau | Do 11., Fr 12., Fr 26., Sa 27.5., Do 1.6. 19 Uhr | Freies Werkstatt Theater | 0221 32 78 17
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