Kurz bevor man von der A61 auf die A46 abbiegt, eröffnet sich in einer etwas erhöhten Rechtskurve der Blick auf die unglaublichen Dimensionen, mit denen der Abbau der Braunkohle die Landschaft der Niederrheinischen Bucht grundlegend verändert. Auffällig ist hier an diesem Tag, dem 14. Januar, aber noch etwas anderes: Der Verkehr auf der A46 ist ungewöhnlich dicht, die Kennzeichen stammen aus Berlin, Stuttgart, Hamburg, Saarbrücken, München, eben aus ganz Deutschland.
Das Ganze gerinnt zu einem Konvoi, der sich zäh, aber unaufhaltsam vorwärtsschiebt, um hinter Erkelenz auf einem betonierten Wirtschaftsweg kurz vor Kaufhausen nach und nach zum Stehen zu kommen. Von hier aus sind es bis nach Lützerath nur noch wenige Kilometer durch eine bereits zu Fuß vorwärtsdrängende Menschenmenge. Auf dem Weg zur Großdemonstration gegen die Räumung des Ortes für den Braunkohleabbau herrscht eine seltsame Atmosphäre zwischen grimmiger Entschlossenheit und Volksfeststimmung. Unterwegs sind viele Gruppen unterschiedlichster Couleur; die überwiegend jungen bis sehr jungen Teilnehmer sind anhand ihrer Transparente zumeist leicht der Fridays for Future-Bewegung zuzuordnen, dann sind aber auch lautstark skandierende kapitalismuskritische Gruppen mit mehr Mittelalter zu sehen. Einige ergraute Atomkraftgegner sind sogar mit Rollator und Rollstuhl am Start. Viele Teilnehmer sind bunt kostümiert, andere bedrohlich schwarz vermummt.
Musikgruppen säumen den Weg, in Kaufhausen stößt eine Dixiland-Band dazu. Erstaunlich: Plötzlich tanzen hunderte Jugendliche auf Dixi, der normalerweise eher schon zum Bereich Alte Musik gehört. Gespenstisch wirken dagegen die verlassenen Dörfer wie Kaufhausen, Westrich oder Berverath – zunächst wirkt es so, als seien alle Bewohner vor der Demo geflüchtet, bei näherem Betrachten sprechen bemooste Dächer, verdreckte Hauseingänge und verwilderte Vorgärten aber eine eigene Sprache.
Mit Musik und den immer wieder zelebrierten Mantras der Aktivisten ( „Alle Dörfer bleiben“ etc.) erreicht der Tross endlich das freie Feld, das nur wenige hundert Meter vor Lützerath liegt. Wind und Regen frischen schlagartig auf und es bietet sich eine atemberaubende Szenerie dar: Von drei Seiten strömen über die betonierten Fahrwege riesige Menschenmassen auf den zentralen Kundgebungsplatz zu, die Banner und Fahnen knattern im Wind, Musik und Sprechchöre erfüllen die Luft. Über die nahe 40 Meter tiefe Abbruchkante ragt ein riesiger Bagger in die dunklen Regenwolken. Ein Hubschrauber kreist mit grell leuchtendem Scheinwerfer über der Stelle, wo man Lützerath vermuten kann.
Die zentrale Kundgebung ist bereits in vollem Gange, Musik und Redebeiträge wechseln sich ab. Alle Redner, einschließlich Greta Thunberg, die frenetisch beklatscht wird, rufen eindringlich zur aktiven Rettung von Lützerath auf, das ein Symbol für eine verlogene und verfehlte Klimapolitik sei. Harsche Kritik gegen Bündnis 90 die Grünen, die durch ihren Kompromiss mit RWE Lützerath der Räumung überlassen, macht die ganze Frustration vieler auch insbesondere junger Menschen mit ihren einstigen Hoffnungsträgern deutlich. Ein Kölner Klimaaktivist fordert schließlich lautstark zum Sturm auf Lützerath auf, sein nur kurz darauf erfolgendes hastiges Dementi geht im Jubel unter.
Und so kommt es leider am späten Nachmittag auch bei immer schlechteren Sichtverhältnissen und einer aufgeheizten Stimmung auf durchnässtem, lehmigem Untergrund zu Auseinandersetzungen nahe dem bereits im Abbruch befindlichen Dorf, wobei sich die schwarz Vermummten deutlich gewaltbereit erweisen. Die Polizei, bis dahin besonnen und gelassen agierend, reagiert hochnervös, und so kommt es zu etlichen brutalen Zusammenstößen – zum Glück ist Sanitätsbereitschaft vor Ort. Nach ca. einer Stunde ist das Schlimmste vorbei. Irgendwie finde ich durch Zufall im Halbdunkeln mein Auto wieder. Erst zuhause merke ich, dass ich selbst ein gutes Kilo Lehm aus Lützerath an den Schuhen mitgebracht habe.
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