Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
28 29 30 31 1 2 3
4 5 6 7 8 9 10

12.581 Beiträge zu
3.805 Filmen im Forum

Foto: Hans-Peter Fischer

Grimmige Entschlossenheit und Volksfeststimmung

17. Januar 2023

Demo gegen die Räumung von Lützerath – Spezial 01/23

Kurz bevor man von der A61 auf die A46 abbiegt, eröffnet sich in einer etwas erhöhten Rechtskurve der Blick auf die unglaublichen Dimensionen, mit denen der Abbau der Braunkohle die Landschaft der Niederrheinischen Bucht grundlegend verändert. Auffällig ist hier an diesem Tag, dem 14. Januar, aber noch etwas anderes: Der Verkehr auf der A46 ist ungewöhnlich dicht, die Kennzeichen stammen aus Berlin, Stuttgart, Hamburg, Saarbrücken, München, eben aus ganz Deutschland.

Das Ganze gerinnt zu einem Konvoi, der sich zäh, aber unaufhaltsam vorwärtsschiebt, um hinter Erkelenz auf einem betonierten Wirtschaftsweg kurz vor Kaufhausen nach und nach zum Stehen zu kommen. Von hier aus sind es bis nach Lützerath nur noch wenige Kilometer durch eine bereits zu Fuß vorwärtsdrängende Menschenmenge. Auf dem Weg zur Großdemonstration gegen die Räumung des Ortes für den Braunkohleabbau herrscht eine seltsame Atmosphäre zwischen grimmiger Entschlossenheit und Volksfeststimmung. Unterwegs sind viele Gruppen unterschiedlichster Couleur; die überwiegend jungen bis sehr jungen Teilnehmer sind anhand ihrer Transparente zumeist leicht der Fridays for Future-Bewegung zuzuordnen, dann sind aber auch lautstark skandierende kapitalismuskritische Gruppen mit mehr Mittelalter zu sehen. Einige ergraute Atomkraftgegner sind sogar mit Rollator und Rollstuhl am Start. Viele Teilnehmer sind bunt kostümiert, andere bedrohlich schwarz vermummt.

Musikgruppen säumen den Weg, in Kaufhausen stößt eine Dixiland-Band dazu. Erstaunlich: Plötzlich tanzen hunderte Jugendliche auf Dixi, der normalerweise eher schon zum Bereich Alte Musik gehört. Gespenstisch wirken dagegen die verlassenen Dörfer wie Kaufhausen, Westrich oder Berverath – zunächst wirkt es so, als seien alle Bewohner vor der Demo geflüchtet, bei näherem Betrachten sprechen bemooste Dächer, verdreckte Hauseingänge und verwilderte Vorgärten aber eine eigene Sprache.

Mit Musik und den immer wieder zelebrierten Mantras der Aktivisten ( „Alle Dörfer bleiben“ etc.) erreicht der Tross endlich das freie Feld, das nur wenige hundert Meter vor Lützerath liegt. Wind und Regen frischen schlagartig auf und es bietet sich eine atemberaubende Szenerie dar: Von drei Seiten strömen über die betonierten Fahrwege riesige Menschenmassen auf den zentralen Kundgebungsplatz zu, die Banner und Fahnen knattern im Wind, Musik und Sprechchöre erfüllen die Luft. Über die nahe 40 Meter tiefe Abbruchkante ragt ein riesiger Bagger in die dunklen Regenwolken. Ein Hubschrauber kreist mit grell leuchtendem Scheinwerfer über der Stelle, wo man Lützerath vermuten kann.

Die zentrale Kundgebung ist bereits in vollem Gange, Musik und Redebeiträge wechseln sich ab. Alle Redner, einschließlich Greta Thunberg, die frenetisch beklatscht wird, rufen eindringlich zur aktiven Rettung von Lützerath auf, das ein Symbol für eine verlogene und verfehlte Klimapolitik sei. Harsche Kritik gegen Bündnis 90 die Grünen, die durch ihren Kompromiss mit RWE Lützerath der Räumung überlassen, macht die ganze Frustration vieler auch insbesondere junger Menschen mit ihren einstigen Hoffnungsträgern deutlich. Ein Kölner Klimaaktivist fordert schließlich lautstark zum Sturm auf Lützerath auf, sein nur kurz darauf erfolgendes hastiges Dementi geht im Jubel unter.

Und so kommt es leider am späten Nachmittag auch bei immer schlechteren Sichtverhältnissen und einer aufgeheizten Stimmung auf durchnässtem, lehmigem Untergrund zu Auseinandersetzungen nahe dem bereits im Abbruch befindlichen Dorf, wobei sich die schwarz Vermummten deutlich gewaltbereit erweisen. Die Polizei, bis dahin besonnen und gelassen agierend, reagiert hochnervös, und so kommt es zu etlichen brutalen Zusammenstößen – zum Glück ist Sanitätsbereitschaft vor Ort. Nach ca. einer Stunde ist das Schlimmste vorbei. Irgendwie finde ich durch Zufall im Halbdunkeln mein Auto wieder. Erst zuhause merke ich, dass ich selbst ein gutes Kilo Lehm aus Lützerath an den Schuhen mitgebracht habe.

Hans-Peter Fischer

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Alter weißer Mann

Lesen Sie dazu auch:

Soziale Vision der Wärmewende
Konferenz in Bocklemünd – Spezial 10/23

Waffe Mensch
nö Theater in der Stadthalle Köln – Theater am Rhein 10/23

Klimarettung in der Domstadt
Die 2. Porzer Klimawoche – Spezial 09/23

Alle Hebel in Bewegung setzen
Arsch huh, Zäng ussenander und Fridays for Future beim Gamescom City Festival – Spezial 09/23

Klimaschutz made in Europe
Podiumsgespräch im Domforum – Spezial 04/23

„Wir werden uns der Abbagerung in den Weg stellen“
Linda Kastrup über die geplanten Klima-Proteste in Lützerath – Spezial 01/23

„Das Fahrrad ist der Schlüssel“
Ute Symanski über Radkomm und den Talk mit Katja Diehl – Interview 03/22

„Natur in den urbanen Raum bringen’’
Sascha Rühlinger und Simon Nijmeijer über Tiny Forests – Interview 02/22

Drängende Forderungen
Kölner Klimastreik am 24. September – Spezial 10/21

Krisen im Doppelpack
Klima-Talk bei Urbane Künste Ruhr – Spezial 04/21

Die Krise macht kreativ
Globaler Klimastreik in Köln mit 2.500 Menschen – Spezial 03/21

„Corona hat gezeigt, was alles möglich ist“
Students For Future planen Klimaschutz-Aktionen – Spezial 03/21

choices spezial.

Hier erscheint die Aufforderung!