Montag, 7. Oktober: Jürgen Lütz, der Betreiber des Odeon-Kinos im Kölner Severinsviertel, bezeichnete „Der Glanz der Unsichtbaren“ als eines seiner persönlichen Filmhighlights des Jahres. Als er den neuen Film von Louis-Julien Petit („Discount“) zum ersten Mal gesehen habe, war er direkt sehr beeindruckt davon gewesen, zumal der Film von einfachen, normalen Leuten in Frankreich erzählt. „Zunächst dachte ich, die Franzosen hätten jetzt das britische Sozialkino à la Ken Loach für sich entdeckt. Aber dann merkte ich, dass auch die Tatsache, dass in unserem Nachbarland Gelbwesten auf die Straße gehen, ein Zeichen dafür ist, dass in dem Land etwas nicht in Ordnung ist“, so Lütz weiter. Louis-Julien Petit erhielt die Idee zu seinem Film durch eine Fernsehdokumentation von Claire Lajeunie, die sechs Monate bei Obdachlosen auf der Straße verbracht hatte. Aus dem Material ihres Dokumentarfilms schrieb sie schließlich noch ein Sachbuch, das Petit gleichermaßen beeindruckte. Daraufhin verbrachte der Filmemacher selbst rund ein Jahr mit Recherchen für seinen Spielfilm, bei denen er obdachlose Frauen in Aufnahmezentren ausgiebig kennenlernte.
Mit Stolz in der Stimme erzählte der Regisseur beim Publikumsgespräch in Köln, dass sein erster Film von der Essensverschwendung gehandelt habe – und danach in Frankreich eine Gesetzesänderung in Kraft getreten sei, die diese Absurditäten abschwächten. Auch nach seinem zweiten Film, in dem es um das Burn-Out bei Managern und Arbeitern ging, wären im Anschluss Gesetze erlassen worden, um diese Umstände auszumerzen. „Der Glanz der Unsichtbaren“ ist nun Petits dritter Film, und nur wenige Monate, nachdem der Film im August 2018 in Frankreich seine Uraufführung erlebt hatte, sei die Gelbwestenbewegung entstanden. „Es ist wichtig, dass der zivile Ungehorsam zunimmt und man auf diese Weise soziale Ungerechtigkeiten anprangert, um sie schließlich zu überwinden“, kommentierte Louis-Julien Petit hierzu weiter. In diesem Sinne verstehe er sich auch als Vertreter einer neuen Generation französischer Filmemacher, die nicht nur die Pariser Bourgeoisie in ihren schicken Altbauwohnungen in Komödien in den Mittelpunkt stellt, sondern Neues erzählen will und dabei auch soziale Härten abbildet. Mit dem Begriff der „Sozialkomödie“ hätten seine Geldgeber zunächst Probleme gehabt, weil Filme über Arme für sie immer zum Genre des Dramas gehörten und nicht mit Komödien vereinbar seien. Das hätte sich aber mittlerweile geändert. Die Finanzierung von „Der Glanz der Unsichtbaren“ wäre nicht sehr schwer gewesen, die meiste Arbeit hätten die intensiven Recherchen und der lange Schnittprozess gemacht – wobei Petit den zunächst viereinhalbstündigen Rohschnitt des Films um drei Stunden kürzen musste.
Für die Rollen der Obdachlosen wollte der Regisseur unbedingt Frauen besetzen, die selbst eine Zeitlang auf der Straße gelebt hatten und deswegen authentische Erfahrungen einbringen konnten. Alle von ihnen hatten aber bereits zu Beginn der Dreharbeiten wieder ein Dach über dem Kopf und waren aus den gröbsten Problemen heraus. Sie alle sind im Film zu Schauspielerinnen geworden und haben Rollen übernommen, die für das Drehbuch geschrieben worden waren. Lediglich Adolpha Van Meerhaeghe, die Darstellerin der Chantal, die im Film allen erzählt, dass sie im Gefängnis saß, weil sie ihren gewalttätigen Mann erschossen hatte, hat sich im Film quasi selbst gespielt. „Ihre Geschichte fand ich so stark, dass ich sie direkt in mein Drehbuch eingebaut habe“, so der Regisseur. Durch den mehrmonatigen Kontakt mit den obdachlosen Frauen habe Petit auch etliche Vorurteile über den Haufen geworfen. Er habe erkannt, dass viele von ihnen auf akademische Laufbahnen zurückblicken konnten und etliche früher Teil von intakten Familien waren. Genau dies einem breiten Publikum zu vermitteln, war dem Filmemacher ein wichtiges Anliegen. Ab 10. Oktober ist „Der Glanz der Unsichtbaren“ regulär im Kino zu sehen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Nach Leerstellen suchen
„Riefenstahl“ im Weisshauskino – Foyer 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
Disziplin, Drill und Durchlässigkeit
„Mädchen in Uniform“ im Filmforum – Foyer 08/24
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
Queere Menschen in Polen
„Boylesque“ im Filmhaus – Foyer 07/24
Die schwierige Situation in Venezuela
„Das Land der verlorenen Kinder“ im Filmhaus – Foyer 06/24
Ungewöhnliches Liebesdrama
„Alle die du bist“ im Odeon – Foyer 05/24
Mehr als „Malen-nach-Zahlen-Feminismus“
„Ellbogen“ im Filmpalast – Foyer 04/24
Gegen die Marginalisierung weiblicher Körper
„Notre Corps“ im Filmforum – Foyer 04/24
Rechtsextreme Terroranschläge
„Einzeltäter Teil 3: Hanau“ im Filmhaus – Foyer 02/24
„Monika musste sterben, weil sie nicht auf den Bus warten wollte“
Auf der Suche nach Gerechtigkeit beim dfi-Symposium – Foyer 01/24
„Mir wurden die Risiken des Hebammenberufs bewusst“
Katja Baumgarten über ihren Film „Gretas Geburt“ – Foyer 11/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
„Paradigmenwechsel im Mensch-Natur-Verhältnis“
Mirjam Leuze zum LaDOC-Werkstattgespräch mit Kamerafrau Magda Kowalcyk („Cow“) – Foyer 03/24