choices: Herr Butterwegge, was heißt für Sie Gesellschaftspolitik heute?
Christoph Butterwegge: Die sozial tief gespaltene und immer weiter auseinanderdriftende Gesellschaft des modernen Finanzmarktkapitalismus so zu gestalten, dass ihr eine friedliche, humane und demokratische Zukunft bevorsteht.
Frank Schirrmacher (FAZ) hat die derzeitige Krise als „Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik“ bezeichnet.
Sofern hiermit gemeint ist, dass linke Gesellschaftskritik wieder salonfähig wird, hoffe ich sehr darauf. Denn natürlich sieht man sich als Kritiker der Konkurrenzgesellschaft durch die globale Finanz-, Weltwirtschafts- und europäische Währungskrisen bestätigt.
Sind soziale und kulturelle Teilhabe Voraussetzung für eine funktionierende Zivilgesellschaft?
Ich spreche lieber von einer demokratischen Bürgergesellschaft, um damit auszudrücken, dass alle Wohnbürgerinnen und Wohnbürger gleichberechtigt Einfluss auf die Entwicklung unseres Landes nehmen können sollten. Hierzu gehört natürlich auch, dass sie am sozialen Leben und an kulturellen bzw. Bildungsprozessen partizipieren, wozu ihre Ausstattung mit den entsprechenden materiellen Ressourcen erforderlich ist, weil die Ökonomisierung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche den Bildungssektor und die Kultureinrichtungen nicht ausgespart hat.
Die Beschwörung von Bildungschancen gehört fest zum sozialpolitischen Repertoire.
Es ist paradox, wenn nicht sogar heuchlerisch, dass die bürgerlichen Parteien den Armen „Aufstieg durch Bildung“ predigen und die Bildungsbarrieren für sozial Benachteiligte durch Studiengebühren, Förderung von Privatschulen und Abschaffung der Lernmittelfreiheit gleichzeitig noch erhöhen.
Die aktuelle Bundesregierung ist für „Wachstum – Bildung – Zusammenhalt“ angetreten. Alles leere Versprechungen?
Meist handelt es sich um Propaganda- und Leerformeln, die kaschieren sollen, dass Politik für eine privilegierte Minderheit gemacht wird. Nie hat eine Bundesregierung den sozialen Zusammenhalt stärker gefährdet als die amtierende CDU/CSU/FDP-Koalition, von der nicht bloß der Hartz IV-Bezug als „anstrengungsloser Wohlstand“ hingestellt und mit solchen Stammtischparolen gezielt Stimmung gegen sozial benachteiligte Minderheiten, sondern auch Klientelpolitik für privilegierte Gruppen wie die Hotelbesitzer und Sparpolitik auf dem Rücken von Langzeitarbeitslosen gemacht wurde.
Immerhin steigt der Hartz IV-Regelsatz ab dem 1. Januar 2012 um 10 Euro.
Das ist einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 geschuldet, wodurch die Regierung verpflichtet wurde, den Regelsatz jährlich an die Lohn- und Preissteigerungen anzupassen. Mit 374 Euro pro Monat kann man in Deutschland allerdings kaum menschenwürdig leben, sich gesund ernähren und normal kleiden, von sozialer und kultureller Teilhabe ganz zu schweigen.
Sie haben mehrfach kritisiert, dass vor allem der Mittelstand Nutznießer der sozialpolitischen und steuerrechtlichen Reformen ist, nicht die Ärmeren. Bitte ein Beispiel.
Das an die Stelle des Erziehungsgeldes getretene Elterngeld ist ein Paradox, weil man damit jene Anspruchsberechtigten bis zum Höchstbetrag von 1.800 Euro am stärksten fördert, die es am wenigsten nötig haben. Seit dem 1. Januar 2011 wird es zudem auf Hartz IV bzw. die Sozialhilfe angerechnet. Das bedeutet, dass es Menschen vorenthalten wird, die damit sonst wahrscheinlich eine Kinderecke oder ein Kinderzimmer eingerichtet hätten, falls die Wohnung dafür überhaupt Platz bietet.
Noch einmal zur kulturellen Teilhabe: Das Kulturpublikum kommt vor allem aus den Mittel- und Oberschichten. Kann man da noch Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik definieren?
Nur wenn auch die Angehörigen der Unterschicht in unserer wohlhabenden Gesellschaft befähigt werden, ihren kulturellen Horizont zu erweitern. Dazu bedarf es der finanziellen Mittel, die es Menschen ermöglichen, sich ohne Existenzsorgen für Kunst und Kultur zu interessieren. Ohne eine Umverteilung des Reichtums von oben nach unten wird es nicht gehen.
Hat das Anwachsen des rechtspopulistischen Wählerreservoirs vor der Mittelschicht Halt gemacht?
Nein, gerade ihre ausgeprägte Angst vor dem sozialen Abstieg oder gar Absturz macht die Mittelschicht, Kleinbürger und Soloselbstständige für rechte Parolen anfällig. Deshalb bieten ökonomische Krisen und gesellschaftliche Umbrüche einen guten Nährboden für rassistische Ressentiments und den Hass auf ethnische, kulturelle oder religiöse Minderheiten wie etwa Migranten muslimischen Glaubens.
Wie wichtig werden in den nächsten Jahren Öffentlichkeit und Partizipation für das demokratische System sein?
Wenn es nicht gelingt, die Demokratie durch mehr Partizipationschancen für Bürgerinnen und Bürger wieder attraktiver zu machen, gerät sie womöglich in Gefahr, von autoritären Formen des Regierens abgelöst zu werden.
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