Ein Tag im Juni: Ein Menschenauflauf am Friedhof an der Gedenkstätte Potocari nahe der Stadt Srebrenica. Grüne Särge werden in frisch ausgehobene Gräber heruntergelassen, Reden gehalten, Blumen mitgebracht. Die 50 Personen, die dort bestattet werden, sind nicht etwa vor kurzem gestorben. Es sind neu identifizierte Opfer, die nun ihre Ruhestätte unter ihrem vollen Namen außerhalb der Massengräber erhalten, in denen sie vor 27 Jahren verscharrt wurden. Damals ermordeten serbische Truppen unter der militärischen Führung von Ratko Mladic im bosnischen Ort Srebrenica mindestens 8.000 muslimische Bosnier. Die meisten Opfer waren Jungen und Männer, aber auch Frauen und Mädchen wurden Zielscheibe von sexuellen und gewalttätigen Übergriffen. Der Vorwurf, der seitdem im Raum steht: Das Massaker sei verhinderbar gewesen, es habe unter den Augen der Weltöffentlichkeit stattgefunden, die nicht eingriff.
Schutzzone ohne Schutz
Eine Begründung für diese Einschätzung liefert die Tatsache, dass das Gebiet rund um Srebrenica bereits unter besonderem Augenmerk und besonderem Schutz der UNO stand: 350 Blauhelmsoldaten aus den Regimentern der „Dutchbatter“ waren dort stationiert. Dass diese das Massaker nicht verhindern konnten, belastet auch Soldaten bis heute, wie beispielsweise der Veteran Henry van de Belt dem Deutschlandfunk sagte: „Was mir am meisten zu schaffen macht, ist die Ohnmacht. Die Ohnmacht, als UN-Blauhelm, dass man etwas tun möchte. Aber dass einem durch alle möglichen Regeln die Hände gebunden sind, und dass man nur zuschauen darf, wahrnehmen und melden, was passiert ist. Diese Ohnmacht ist die schlimmste Erfahrung, die ich je gemacht habe.“
Viel diskutierte Aufarbeitung
Neben der Auseinandersetzung mit den Geschehnissen in und um Srebrenica in Bosnien hat es auch in den Niederlanden immer wieder öffentliche Debatten, politische Statements und Gerichtsverhandlungen gegeben, die die Rolle der Blauhelme während des Massakers zum Thema hatten. Schon 2002 veröffentlichte das Niederländische Institut für Kriegsdokumentation einen Untersuchungsbericht, an dem sechs Jahre gearbeitet wurde und der den Rücktritt der damaligen Regierung um den Ministerpräsidenten Wim Kok nach sich zog. Die Kernaussage: Die niederländischen Blauhelme hätten sich falsch für die „praktisch nicht durchführbare“ Mission in Bosnien entschieden, sich dadurch an den ethnischen Säuberungen mitschuldig gemacht. 2008 wiederum klagten die Hinterbliebenen der Opfer gegen den niederländischen Staat, die Klage wurde jedoch abgewiesen. Schließlich waren es die Prozesse gegen die serbischen Kriegsverbrecher Radovan Karadžić und Ratko Mladić in Den Haag, die zu weiteren öffentlichen Diskussionen führten.
Die langersehnte Entschuldigung
Dabei blieb eines stets offen: eine offizielle Bitte um Entschuldigung der Niederlande – bis zu diesem Sommer, als die Verteidigungsministerin Kasja Ollongren am Montag bei der Gedenkfeier in Potocari in Bosnien-Herzegowina während ihrer Rede ein öffentliches Zugeständnis machte: „Die internationale Gemeinschaft hat beim Schutz der Menschen von Srebrenica versagt. Als Teil dieser Gemeinschaft trägt auch die niederländische Regierung einen Teil der politischen Verantwortung für die Situation, in der dieses Versagen geschehen konnte. Dafür entschuldigen wir uns zutiefst.“ Diese Entschuldigung ist ein weiterer Schritt zur Aufarbeitung des Massakers von Srebrenica. Ist es auch ein Schritt, die Wunden zu heilen?
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