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Josef H. Reichholf
Foto: Miki Sakamoto-Reichholf

„Eine Aussperr- und Verbotspolitik“

24. November 2021

Der Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf über Widersprüche im Naturschutz – Teil 3: Interview

choices: Herr Reichholf, in Teilen der Jugend herrscht eine regelrechte Weltuntergangsstimmung angesichts der ökologischen Entwicklungen. Ist das angebracht?

Josef H. Reichholf: Nein, ganz und gar nicht. Auch in meinen Vorlesungen an der TU München habe ich den Studierenden immer vermittelt, dass sie die Zukunft sind und diese gestalten können. Allerdings ist klar, dass sich die Dinge ändern werden. Es ist aber auch absurd zu meinen, es dürfe sich nichts ändern. Ich bin beispielsweise am Ende des Zweiten Weltkriegs geboren. Für meine Generation wäre eine solche Einstellung nicht denkbar und auch nicht zielführend gewesen. Ich habe die ganz große Befürchtung, dass die heutige Jugend zu politischen Zwecken instrumentalisiert wird. Zukunft beinhaltet immer verschiedene Optionen. Die Vorstellung, dass die Jugend heute „richtig“ leben würde, ist falsch. So verursacht die ständige Nutzung der Handys und des Internets einen immensen Energieverbrauch. Insofern müssten Maßnahmen zum Klimaschutz auch daran ansetzen, wo es der Jugend weh tut. Ein weiteres Beispiel ist das Vorrecht, reisen zu dürfen. In meiner eigenen Studienzeit war eine der tollsten Reisen eine Fahrt zu viert in einem VM Käfer in die Camargue. Ich sage Ihnen – da ist der Sardinenbüchsen-Vergleich wirklich angemessen (lacht). Nachhaltiger Umweltschutz bedeutet, die Mobilität insgesamt einzuschränken. Sie gehört zum Luxus, den wir uns leisten. Wenn man mit Jugendlichen in Südamerika spricht, blicken diese häufig wesentlich optimistischer in die Zukunft.

Die Natur ist weitestgehend ausgeblendet“

Wie präsent ist heute die Natur?

Natur ist weitestgehend ausgeblendet und durch Virtuelles ersetzt worden. Sogar der Wald dient vielfach nur als Kulisse. Was an Leben im Wald vorhanden ist und geschieht, interessiert kaum noch. Ein wichtiger Faktor ist dabei die unsinnige Nutzung der Staatsforste. Hierbei geht es zu sehr um den Profit durch den Holzverkauf, der Aspekt der Erholung der Menschen im Wald spielt keine Rolle mehr. Das sieht man beispielsweise an der Holzernte: Früher wurde Holz im Winter gemacht, also in einer Zeit, in der man eher weniger zur Erholung im Wald war. Nun findet die Holzernte über das ganze Jahr hinweg statt, auch während der Sommerferien. Die Art, wie heutzutage geerntet wird, erfordert einen ausgesprochen hohen Energieeinsatz – die Holznutzung hat also auch eine stark negative CO2-Bilanz. Ähnliches kann man übertragen auf den exzessiven Mais-Anbau auf den Fluren. Das sind jedoch Aspekte der Umweltbelastung, dienicht mitgeteilt werden. Auf der einen Seite darf die Natur so genutzt werden, auf der anderen Seite werden die Naturfreunde regelrecht ausgeschlossen. Es herrscht eine Aussperr- und Verbotspolitik, die es Menschen, vor allem den eigentlichen Naturfreunden, kaum noch erlaubt, wirklich in die Natur zu gehen. Naturschutzgebiete werden gesperrt, Käfer dürfen nicht angefasst, Blumen nicht gepflücktund vorgegebene Wege nicht verlassen werden. Normal sind hingegen Angeln und Jagen – auch in Naturschutzgebieten erlaubt. Das Ergebnis des vermeintlichen Naturschutzes erzeugt Distanzierung. In den USA benutzt man dafür den Begriff des „shifting baseline“-Syndroms. Die Bezugsbasis hat sich verändert und regelrecht verschoben. Wie es früher war in der Natur ist nicht mehr bekannt.

Was verstehen Sie unter Naturschutz?

Für mich ist Naturschutz eigentlich das, was in weiten Teilen Asiens selbstverständlich ist: Anständiger Umgang mit allem Lebendigen. Mensch und Natur werden nicht als getrennt empfunden, sondern als Einheit. Wenn ich meine Vorstellung von Naturschutz kurz zusammenfassen müsste, dann wäre das ein achtsames Miteinander. In Indien hat man ein anderes Verhältnis zu Tieren und Pflanzen als bei uns. Das beste Beispiel ist wohl Japan, das ja sehr dicht bevölkert ist. Dennoch gibt es dort viel mehr wild wachsenden Wald. Affen können in heißen Quellen baden, ohne dass gleich Alarm ausgelöst wird. Näher betrachtet fällt auch ein unterschiedlicher Umgang mit den freilebenden Tieren in West- und Ostdeutschland auf. In Ostdeutschland ist es nichts Besonderes, dass Wildschweine und Füchse in der Großstadt leben, in Westdeutschland regt man sich darüber auf. Mit Tieren in Menschennähe wird sehr unterschiedlich umgegangen in Ost und West.

Es reicht es nicht, den älteren Generationen vorzuwerfen, dass sie schuld seien

Was kritisieren Sie an den zahlreichen Naturschutzorganisationen?

Dass sie sich zu wenig bemühen, Menschen und vor allem Kindern die Natur nahe zu bringen. Die zahlreichen Naturschutzregelungen müssen viel mehr bringen. Ich empfinde es als Verrat des Anliegens, dass es so viele unsinnige Schutzverordnungen gibt. Es wird auch zu wenig publik gemacht, wie die Erfolge der Verbote aussehen undFehler werden nicht eingestanden. Das führt dazu, dass der Naturschutz grundsätzlich in Frage gestellt wird. Die heutigen Naturschutzregelungen müssen entrümpelt werden. Sie bringen zu wenig. Sie entfremdendie Menschen von der Natur. Es leben jetzt um die 7 Milliarden Menschen auf der Erde und die Menschheit wird vermutlich auf 11 Milliarden anwachsen. Insofern ist klar, dass sich sehr viel auf der Erde, dass sich auch das Klima ändern wird. Es ist ähnlich wie beim Altern: Man kann am Prozess an sich nichts ändern, aber vernünftig damit umgehen. Sie leben in Bonn, also relativ nahe der von der Flutkatastrophe im Sommer heimgesuchten Region. Als Konsequenz nun „konsequenter gegen den Klimawandel vorzugehen“, bringt den Betroffenen so gut wie nichts. Für Naturkatastrophen gilt generell, dass sie auftreten und man in der Regel nicht weiß, wann. Man kann nur vorsorgen und sich versichern. Gegen Fluten müssten Rückhaltebecken installiert und gegen Dürre Wasser gespeichert werden. Auch Reduzierung der Skiabfahrten im Gebirge und Rückgestaltung von Weinbergen zur alten Terrassenform wären Beispiele für geeignete Vorsorgemaßnahmen. Bäche und Flüsse brauchen Überflutungsraum. Die Landwirtschaft muss sich aus den einstigen Überschwemmungsflächen wieder zurückziehen.

Wie sähe Ihr Appell an die heutige Jugend aus, was würden Sie dieser auf den Weg geben?

Den jungen Leuten muss klar werden, wie sie selbst leben und welchen Beitrag sie selbst für die Zukunft zu leisten haben, bevor sie große Forderungen stellen. Dann zeigt sich, ob ihr der eigene Egoismus nicht doch wichtiger ist als das Anliegen, das Klima zu schützen. Beim Blick auf die Zukunft reicht es nicht, den älteren Generationen vorzuwerfen, dass sie schuld seien, dass sie düster aussähe. Es mag sein, dass die Zukunft nicht so rosig wird, wie es sich jetzt lebt. Aber gerade deshalb muss sich die Jugend über den eigenen Anteil an der Gegenwart bewusst werden. Das heißt, bei sich selbst anzufangen, und den eigenen blinden Fleck nicht ausblenden. Gute Änderungen werden nur evolutionär stattfinden. Daher sollte die Politik erst gar nicht versuchen, nach festen Vorgaben zu steuern. Nötig sind geeignete Rahmenbedingungen. Ich bin skeptisch, ob über die Vernunft alles zu steuern ist. Wir alle brauchen wieder mehr emotionale Bezüge zum Leben und zur Natur. Nicht Pessimismus führt in die Zukunft, sondern Zuversicht.


VERLORENE JUGEND - Aktiv im Thema

generationenstiftung.com | Allianz von Jung und Alt für generationengerechte Politik.
bgekoeln.de | Gemeinnützige Organisation, die mit Aktionen für ein bedingungsloses Grundeinkommen wirbt.
jugend-waehlt.de | Die Bundesinitiative fordert die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre.

Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de

Interview: Verena Düren

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