Ein roter Luftballon in Herzform steigt aus dem Publikum auf, als Arcade Fire zu spielen beginnen. Kein chemisches Element verleiht ihm die Fähigkeit des Fliegens. Die Hände der Zuschauerinnen und Zuschauer halten ihn in der Höhe, geben der grauen Himmelskulisse über dem Tanzbrunnen etwas Farbe. Die kanadische Indie-Rock-Band auf der Bühne startet ihr Konzert vor einer nicht riesigen, aber dennoch beeindruckenden Videoleinwand. Drei große Lettern prangen darauf: N-O-W. Mit „Everything Now“, dem Titelsong der gleichnamigen Ende Juli erscheinenden Platte, legen Arcade Fire um das Ehepaar Win Butler und Régine Chassagne dann los – und die etwa 12.000 Gekommenen tun das ebenfalls; jedenfalls der Großteil kennt Melodie und auch Text der erst sieben Tage zuvor auf Vinyl erschienenen Single. Schnell besteht eine für die meisten Künstler nur schwer erreichbare Symbiose zwischen Musikern und Zuhörern.
Bevor die achtköpfige Band in Erscheinung tritt, gibt’s im Open-Air-Tanzbrunnen vieles, was das Indie-Herz begehrt. Im Hintergrund laufen die Sex Pistols, Bowie und ABBA, in Buden, die an Festivals erinnern möchten, werden Kölsch und Pils vom Fass, Cocktails und Longdrinks sowie eine kulinarische Reise durch die Fast-Food-Welt angeboten. Als Vorband heizen Bomba Estéreo um die rosa-gold-glitzernde Frontfrau Liliana Saumet an, kolumbianische Cumbia in Verbindung mit Electro und Dancehall. Teilweise sind die Südamerikaner etwas zu Bomba für den frühen Abend, wenn sie aber das „corazón“ besingen, gerät das Warten auf den Hauptakt doch zur Nebensache. Es gibt nichts anderes mehr als dich und mich, der Rest verschwindet, erzählen sie, und Köln-Deutz fühlt sich ein bisschen anders an als gewöhnlich.
Zurück in die Zukunft: Arcade Fire bieten ihrem Publikum in Arcade-Fire-, Roskilde- und Twin-Peaks-Coffee-Shirts eine Werkschau ihrer nun insgesamt fünf Studioalben. Und die Songauswahl ist so gut, dass das Ensemble auf der Bühne auch versagen könnte. Arcade Fire und das Versagen passen allerdings so gut zusammen wie Helligkeit und Dunkelheit; beides existiert, aber nie gemeinsam. Butler, der wohl nur zufällig Win mit Vornamen heißt, Chassagne, die ihre haitianischen Wurzeln mythisch auf die Bühne trägt, und Co. – es tut mir Leid, hier abzukürzen – sind in guter Form. Auch wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer die gesellschaftskritischen Nummern der Band stellenweise vielleicht etwas zu sehr in die Disko tragen, bietet diese Unvergleichbares: Arcade Fire machen Indie-Rock, der auch in den größten Stadien der Republik noch als Innovation barocker Kunst daherkäme.
Butler, nach dem Ausziehen seiner Lederjacke ganz in Weiß, und Chassagne im schwarzen Lederoverall spielen sich in Rage, starten gut, werden sehr gut. Die – Stand 17. Juni – laut 50 Prozent von 542 Abstimmenden auf der Website des deutschen Rolling Stone „bedeutendste Band unserer Zeit“ steigert sich im Laufe des Abends bis zum Höhepunkt am Ende des Konzerts. In „Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)“, dem vorletzten von insgesamt 17 Songs im Tanzbrunnen, zeigt Chassagne, warum sie sich nicht vor ihrem Gatten verstecken muss; in „Wake Up“, der Arcade-Fire-Hymne schlechthin, zeigt Butler, warum es in der Musiklandschaft keinen Zweiten gibt, der live so polarisieren kann wie er.
Lange fordert das Publikum nach einer Zugabe. Die Roadies gehen schon ihrer Arbeit nach, da geben Butler und Chassagne nach, stellen sich nochmal auf die Bühne. Butler nimmt die Gitarre in die Hand, beginnt zu spielen – bereits von der Technik getrennt, gibt das Instrument jedoch nur noch stumme Laute von sich. Der rote Luftballon fliegt da nicht mehr über dem Tanzbrunnen, das muss er allerdings auch nicht.
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