Das Leben, dass er früher hatte, ist nur noch eine Erinnerung; seine Zeit in der Feuerwehr, die Gitarrenriffs in der Rock-Band, das Leben mit einer geliebten Frau. Die Gegenwart von Harald Mayer ist hingegen trist und hoffnungslos. Der 49-jährige Multiple-Sklerose-Patient ist an einen Rollstuhl gefesselt, den er über einen Computer per Mimik steuert. Acht Assistenten betreuen den Mann aus Rammstein in Rheinland-Pfalz, seine einzige Beschäftigung: rumsitzen und fernsehen. „Ich kann nichts mehr selbst tun“, sagte Mayer im November vor dem Verwaltungsgericht Köln. Dort will er seinen letzten Willen durchsetzen: Eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital. „Jetzt liegt es am Gericht, ob ich der Regisseur meines Lebens sein darf“, sagte Mayer am Rande der Verhandlung.
Dabei ist die Sache eigentlich schon im vergangenen März in einem Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig entschieden worden. Der Verkauf entsprechender Sterbemittel ist erlaubt, wenn sich der Suizidwillige wegen einer schweren unheilbaren Erkrankung mit gravierenden körperlichen Leiden in einer extremen Notlage befindet. Dass Mayer nun mit fünf weiteren Mitstreitern in Köln klagen muss, liegt an Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Der hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn angewiesen, alle eingehenden Anträge auf eine tödliche Dosis zu verweigern. Aus Prinzip, weil der Bundestag 2015 ein Verbot der organisierten Sterbehilfe beschlossen hatte. Das, so Spahn gegenüber der FAZ, sei für ihn handlungsleitend, „denn die höchste Form der Organisation wäre es, wenn der Staat dabei hilft“. Kritisiert wird Spahn vom SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach. Es gehe hier weder um eine moralische Legitimation des Selbstmords noch um depressive und lebensmüde Menschen, denen in den meisten Fällen mit Therapien und Medikamenten geholfen werden könne.
Sterbehilfe ist besonders vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Euthanasie ein heikles Thema. Nicht ohne Grund ist in Artikel 1 Grundgesetz von der unantastbaren Würde des Menschen die Rede und in Artikel 2 vom Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Aber steht Harald Mayers Wunsch, selbstbestimmt zu sterben, dem Grundgesetz entgegen? Verlangt das Grundgesetz, dass Harald Mayer elendig verreckt? Dessen größte Angst ist es, aufgrund einer im Endstadium seiner Krankheit möglichen Lähmung der Atemwege, qualvoll zu ersticken.
Klar, es gibt andere Wege als Gift. Es gibt die passive Sterbehilfe, in der auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichtet wird. Es gibt die Palliativmedizin, auf die Spahn und parteiübergreifend zahlreiche seiner Kollegen verweisen. Aber ist das auch dann der Königsweg, wenn ein Sterbewilliger bei klarem Verstand sagt: Das will ich nicht! Wo bleibt da die Unverletzlichkeit der Freiheit der Person, die ebenfalls in Artikel 2 garantiert wird?
Die 7. Kammer am VG-Köln zeigte sich jedenfalls überzeugt, dass ein generelles Verbot der Abgabe einer tödlichen Dosis für Schwerkranke in einer existentiellen Notlage nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die staatliche Schutzpflicht für das Leben könne in begründeten Einzelfällen hinter das Recht des Einzelnen auf einen frei verantworteten Suizid zurücktreten. Die Richter setzten die Klageverfahren aus und verwiesen die Fälle ans Bundesverfassungsgericht. In anderthalb Jahren könnte eine Entscheidung fallen, die Kläger könnten das sogar erleben. Die Justiz zeigt sich so allemal humaner als der Gesundheitsminister.
Hinweis: Wenn Sie depressiv sind oder Selbstmord-Gedanken haben, wenden Sie sich bitte umgehend an die Telefonseelsorge: im Internet unter www.telefonseelsorge.de oder unter der kostenlosen Hotline 0800-111 01 11 oder 0800-111 02 22. Hier helfen Ihnen Berater, die Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.
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