Precious ist 16 Jahre alt und zum zweiten Mal schwanger. Der Vater der Kinder ist ihr Vater. Auch Precious’ Mutter ist gewalttätig. C Erschütternder Blick in eine Familienhölle
Die Romanvorlage des Films war mit ihrer nur schwer verdaulichen Geschichte und seiner verwahrlosten Sprache bei ihrem Erscheinen Mitte der 90er Jahre eine kleine Sensation. „Push“, der einzige Roman der Slam Poetry-Protagonistin Sap - phire, erzählt aus der Hölle einer unterprivilegierten Großstadtfamilie. „Familie“ ist in diesem Fall allerdings ein Euphe mismus, denn die ist noch verwahrloster als die Sprache, die dort verwendet wird: Der Vater hat seine schwer übergewichtige Tochter Precious permanent vergewaltigt. Als sie mit 16 Jahren zum zweiten Mal von ihrem Vater schwanger wird – das erste Kind hat das Downsyndrom – verschwindet er. Die Mutter sitzt saufend und rauchend vor der Glotze, und wenn Precious nicht pariert, gibt es Prügel. Eine Hölle, aus der sie nur ihre Tagträume, in denen sie ein gefeierter Star ist, befreien. Als in der Schule ihre zweite Schwan - gerschaft bemerkt wird, droht der Verweis. Doch Precious erhält noch eine Chance. Sie darf an einem schulischen Projekt teilnehmen. Dort lernt sie, ihre Gefühle sprachlich auszudrücken. Sie gewinnt an Selbstbewusstsein.
KATASTROPHALE LEBENSUMSTÄNDE
Vom gemütlichen Büro eines Filmkritikers betrachtet scheint der Bogen der sozialen Katastrophen der Hauptfigur arg überspannt. Wenn man sich aufmacht zu den sozialen Brennpunkten dieser Welt – das muss nicht unbedingt in der sogenannten Dritten Welt sein, auch nicht in der Bronx, wahrscheinlich reicht eine SBahnfahrt –, dann könnte sich dieser Eindruck schnell verflüchtigen. Denn bei aller überspitzten Darstellung – vorstellbar sind die fürchterlichen Lebensumstände von Precious allemal. Vergewaltigende Väter gibt es, schlagende Mütter auch, und Teenager-Schwangerschaften sind ebenso wie eine katastrophale Bildung keine Seltenheit. Bei Precious kommt alles zusammen, aber das ist weder Sensationslust noch Holzhammermethode einer Literatin. Eins bedingt das andere, und ein Aus - weg aus dieser Situation wird mit jedem Baustein unwahrscheinlicher. Dass es diesen Ausweg gibt, dass auch ein Mensch wie Precious eine Chance hat und seine Würde wiedererlangen kann, davon erzählt der Film von Lee Daniels. Obwohl Daniels bereits einen Film gedreht hat und auch schauspielert (kurioserweise hatte er vor sechs Jahren auch eine kleine Rolle in Oskar Roehlers „Agnes und seine Brüder“), ist er bislang vor allem als Produzent von solch bemerkenswerten Filmen wie „Monster’s Ball“, der Halle Berry den einzigen Oscar einer Afroamerikanerin als Hauptdarstellerin einbrachte, oder „The Woodsman“ mit Mos Def bekannt. Dadurch hat Lee in der Black-Community ein großes Standing. Produziert hat seinen zweiten Film niemand Geringeres als Oprah Winfrey. So gelingt es auch, dass die Hauptdarstellerin Gabourey Sidibe im Film prominent unterstützt wird: Mariah Carey, Mo’nique und Lenny Kravitz spielen an ihrer Seite. All die Stars in ihren ungewöhnlichen Rollen – Kravitz als Krankenpfleger und Carey als Sozialarbeiterin – werden jedoch von der Debütantin Gabourey Sidibe überschattet. Nicht nur körperlich – das auch – sondern mit ihrer ergreifenden Darstellung einer Figur, der man im Alltag sicher nicht so nah kommen würde.
EINE KOMPLIZIERTE SACHE
Die Physis der 26jährigen Gabourey Sidibe ist erstaunlich. Aber erst durch ihren gedrungenen Gang und ihren verhuschten, ausweichenden Blick macht sie aus Precious eine Außenseiterin. Precious ist groß und kräftig und ungewöhnlich mächtig für eine 16Jährige, während sie geistig naiv, kindlich und unbeholfen wirkt. Doch tief in ihrem Inneren verbirgt sie eine gegen ihre Lebensumstände widerständige Kraft, die sie überleben lässt. Ähnlich wie in Lars von Triers „Dancer in the Dark“ tritt die Hauptfigur in den Momenten größter Erniedrigung aus der Realität heraus und erfindet sich eine glamouröse Welt, in der sie die Anerkennung genießt, die sie in Wirklichkeit so sehr missen muss. Mit Hilfe der Lehrerin des Schulprojektes und ihrer Sozialarbeiterin wird es ihr möglich, die verborgenen Fähigkeiten der Imagination sprachlich zu nutzen und so aus einem Menschen, der permanent ein Schutzschild vor sich her trägt, eine Persönlichkeit wachsen zu lassen, die lernt, sich zu lieben. Dass Lee das Drama zu einem reinen Frauenfilm macht (die einzige funktionierende Beziehung, die im Film vorkommt, ist die zwischen Precious’ Lehrerin und ihrer Freundin; die einzige Männerrolle ist die einer männlichen Kranken schwester), ist nochmals ein Dreh, der zeigt, dass es dem Film nicht um die Täter, sondern um die Opfer geht. Nicht, dass am Ende aus der monströsen Mutter ein Opfer würde. Im Gegenteil: Der abschließende Monolog, der Mo’Nique wohl den Oscar eingebracht haben dürfte, offenbart all das Unfassbare dieser Person. Man beginnt langsam, das Unbegreifliche zu verstehen. Das entschuldigt nichts, aber es zeigt, wie kompliziert die Sache ist.
PRECIOUS – DAS LEBEN IST KOSTBAR
Oscar 2010 für Mo’Nique: Beste Nebenrolle USA 2008 - Drama - Regie: Lee Daniels - Kamera: Andrew Dunn - mit: Gabourey 'Gabby' Sidibe, Mo'Nique, Mariah Carey - Verleih: Prokino Start: 25.3. OFF Broadway, Cinenova, Rex
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