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Klaus Peter Kisker
Foto: Bernd Wannenmacher

„Die Gegenwart bestätigt Marx in bedrückender Weise“

26. April 2018

Wirtschaftswissenschaftler Klaus Peter Kisker über Marxismus heute

choices: Herr Kisker, wann sind Sie mit Marxschem Denken in Berührung gekommen?
Das war, als ich in den 60er Jahren meine Doktorarbeit geschrieben habe. Ich hatte zunehmend das Gefühl, dass die damals vorherrschende Lehre die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung nicht hinreichend erklären kann. Ich war zunehmend frustriert über die Volkswirtschaftslehre und bin dann nach Havard in die USA gegangen, weil ich dachte, da ist alles besser – musste allerdings feststellen, dass dort auch nur mit Wasser gekocht wird. Ich bin schließlich über die Beschäftigung mit dem Thema meiner Dissertation zum Anhänger von Marx' Methode geworden – wenn man so will ist der Witz, dass ich in den USA zum Marxisten geworden bin. Vor allem weil ich mich dort noch viel stärker mit dem Problem der Armut beschäftigen konnte und musste.

Was hat Sie an Marx‘ Denken überzeugt?
Ich habe in der Beschäftigung mit den Marxschen Ansätzen gesehen, dass seine Theorie sowohl die kurzfristigen konjunkturellen, als auch die langfristigen strukturellen Krisen erklären kann, was die herrschende Lehre kaum schafft. Das gilt sowohl für die zunehmende Ungleichheit bei der Einkommens- und Vermögensverteilung, als auch bei den Problemen der Armut und der Umweltzerstörung.

Lässt sich Marxismus auf ein paar prägnante Sätze herunterbrechen?
Der Begriff Marxismus ist eigentlich ein Widerspruch in sich, Marx selbst hat diese Bezeichnung abgelehnt. Er sagte einmal: „Ich weiß nur dies, das ich kein Marxist bin“. Er hat sich damit nicht von seinen Ansichten distanziert, sondern von der Vorstellung, dass seine politische Ökonomie ein abgeschlossenes Lehrgebäude sei. Das ist sie eben nicht, sie ist weiter entwickelbar, das ist in der Marxschen Theorie ein zentrales Anliegen. Brecht hat mal geschrieben, „Marx‘ Theorie lehrt Fragen zu stellen, welche das Handeln ermöglichen“. Man kann im Grunde nicht von dem Marxismus, sondern muss besser von Marxismen sprechen, weil die Weiterentwicklung natürlich zu verschiedenen Interpretationen geführt hat. Marx' Theorie ist kein Dogma, sondern ein heuristisches Prinzip. Sie ist ein Instrument mit dem die gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung zu erklären ist, ohne Rücksicht auf die Interessen der Herrschenden.

Autoritäre Tendenzen und das Scheitern der Ostblock-Staaten werden teils so interpretiert, dass die Keimzelle dazu bereits in Marx' Lehren enthalten gewesen sei. Wie antworten Marxisten heute darauf?
Man muss sich fragen, was dort eigentlich gescheitert ist – nämlich ein zutiefst feudalistisches, autoritäres System. Russland war am Vorabend der Revolution das rückständigste Land Europas, das noch tief im Feudalismus steckte. Auf dieser Grundlage eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, widerspricht völlig den Marx'schen Vorstellungen. Nach Marx kann man eine Revolution nicht aus dem Stegreif anzetteln. Damit diese erfolgreich sein kann, müssen die Verhältnisse so weit entwickelt sein, dass die Umgestaltung notwendig geworden ist. All das lag am Vorabend der Revolution nicht vor. Was dort entstanden ist, war vielmehr ein Feudosozialismus, ein Feudalismus mit sozialistischer Dekoration. Es war ein Etikettenschwindel, ein Potemkinsches Dorf. Marx selbst hat geschrieben, „eine Revolution aus dem Stegreif, ohne die genügende Entwicklung der der Produktivkräfte abzuwarten, wird nur den Mangel verallgemeinern“. Nochmal, das Scheitern des Ostblocks als Scheitern des Marxismus hinzustellen, ist einfach falsch.

Befürworter des Kapitalismus argumentieren gerne, dieser entspreche durch seine Betonung des Eigeninteresses der „Natur des Menschen“. Was ist davon zu halten?
Diese Analogie ist auf den ersten Blick bestechend, aber sie ist durch keinerlei wissenschaftliche Belege begründet. Mit seiner Idee vom Menschen als ein gesellschaftliches Wesen knüpft Marx an die ganze abendländische Philosophie an – an Aristoteles, an Kant, an Hegel. Wir sind eben nicht im Tierreich, wo das Überleben des Stärkeren gilt, wir haben einen humanitären Aspekt, der ist bei Marx sehr wichtig. Marx wäre zwar ohne die Arbeitswertlehre von Adam Smith nicht denkbar, aber er kritisiert an ihm, dass Smith den Menschen nicht als gesellschaftliches Wesen sieht, sondern nur als Zahnrad in einer Maschine.

Was hat sich am Marxschen Denken als richtig erwiesen, was als falsch?
Ich denke, dass man mit einer Weiterentwicklung der marxistischen Ansätze konjunkturelle Krisen und auch die langfristige Entwicklung erheblich besser und genauer erklären kann, als die vorherrschende neoklassische Theorie, die dem Phänomen hilflos gegenüber steht. Die Neoklassik geht davon aus, dass Wirtschaft an sich stabil ist und sich auf einem Gleichgewichtspfad entwickelt. Dass es immanente Ursachen für Instabilität gibt, kann sie nicht erkennen. Falsche Aussagen sehe ich nicht, im Gegenteil, ich behaupte die Gegenwart bestätigt Marx in bedrückender Weise.

Globale Ungerechtigkeit wird vermehrt diskutiert. Wirkt sich das auf die Bewertung von Marx‘ Thesen aus?
Ich denke schon, dass die Krisen der letzten Zeit, vor allem die langfristige Entwicklung der Einkommensdisparität, zum aktuell großen Interesse an Marx' Theorie geführt hat, sonst wäre die Masse an neuen Veröffentlichungen nicht zu erklären. Das Interesse an Alternativen ist deutlich gewachsen, wird auf der anderen Seite aber auch wieder bekämpft.

Wie äußert sich das?
Etwa, indem behauptet wird, dass Marx zwar ein interessanter Typ gewesen sei, er aber die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts analysiert hätte und nicht die des 21. Jahrhunderts. Das ist ein Missverständnis, Marx hat eine sehr abstrakte, sehr allgemeine Analyse der kapitalistischen Entwicklung geliefert und wenig Bezug auf seine Zeit genommen.

Welche Rolle spielt hierbei die Finanzkrise?
Das ist sehr interessant, wir Marxisten haben die Finanzkrise seit Beginn der 80er Jahre vorausgesehen – nicht, wann genau und wo, aber auf jeden Fall, dass es zu einer Krise kommen würde. Die Neoklassik hingegen hat es nicht nur nicht vorausgesehen, sondern bis zuletzt die Möglichkeit einer solchen Krise geleugnet. Für den Sachverständigenrat und die Mainstream-Ökonomie kam die Krise aus heiterem Himmel. Das Beschämende ist, dass versucht wird, die Krise auf das Fehlverhalten Einzelner zurückzuführen, aber das ist keine hinreichende Erklärung: Es ist im System angelegt, dass es zu solchen Krisen kommt.

Aus ökologischer Sicht wird argumentiert, dass im geschlossenen System des Planeten Erde die Grenzen ökonomischen Wachstums begrenzt sind. Ein Problem, das Marx noch nicht kannte?
Es stimmt, dass für Marx die soziale Frage im Vordergrund stand, aber er hat sich auch dezidiert zur Ausplünderung der Umwelt geäußert. Nach seiner Aussage sind die Ausbeutung des Menschen und die Ausplünderung der Natur zwei Seiten der gleichen Medaille. Er hat nicht so ausführlich vor der Zerstörung der Umwelt gewarnt, wie er sich mit sozialen Fragen beschäftigt hat, aber diese Aussage zeigt, dass er die Naturproblematik durchaus gesehen hat. Ich und viele Kollegen bemühen uns, bei der Weiterentwicklung der Theorie die Naturfrage stärker in den Fokus zu stellen, als Marx es getan hat. Wir haben, und das kapiert die bürgerliche Ökonomie nicht, eine langfristige strukturelle Krise, in der die Unternehmen verzweifelt versuchen, ihre Profite zu halten. Das geschieht eben nicht nur, indem Sozialstandards abgebaut werden, sondern auch, indem immer mehr Natur genutzt und abgenutzt wird.

Was ist Marx‘ wichtigste Lehre?
Marx sagte etwas ganz ähnliches wie Kant, mit seiner Überwindung der selbstverschuldeten Unmündigkeit: Er sieht die Befreiung des Menschen als sein eigentliches Ziel an. Die Lebensgefahr für jedes Wesen bestehe darin, sich selbst zu verlieren, die Unfreiheit sei daher die eigentliche Todesgefahr für den Menschen. Daher gelte es alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.


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Interview: Christopher Dröge

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