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Regina Schilling
Fotos: Conny Beißler / dfi

„Monika musste sterben, weil sie nicht auf den Bus warten wollte“

29. Januar 2024

Auf der Suche nach Gerechtigkeit beim dfi-Symposium – Foyer 01/24

Mord und Totschlag sind Sujets, die audiovisuelle Medien seit ihren Anfängen faszinieren. Nicht nur Verbrechen an sich, auch deren Aufklärung und juristische Ahndung sind Teil der Film- und Fernsehgeschichte, wie die Popularität von US-Serienformaten wie „Law & Order“ beweisen. Jenseits des Fiktionalen interessieren sich auch dokumentarische Formen für Justiziables. Ob Dokumentarfilmen oder Doku-Serien ähnliche Verfahren zugrunde liegen wie juristischen, war die Ausgangsfrage des Kölner Symposiums im Filmhaus, das Michelle Koch für die dif konzipierte und das von Filmemacherin Mala Reinhard („Der zweite Anschlag“) und Journalist Matthias Dell moderiert wurde.

Die (Nach-)Erzählung von wahren Verbrechen sowie deren Aufklärung und Verhandlung vor Gericht ist ein Genre, das in Deutschland erst seit einigen Jahren beliebter wird. Dabei ist True Crime – zumindest als TV-Sendung – eine deutsche Erfindung von 1967, die international adaptiert wurde, wie Regisseurin Regina Schilling („Kulenkampffs Schuhe“, „Igor Levit. No Fear“) erklärte. Ihr Essayfilm „Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann“ wurde neben Marie Wilkes ZDF-Serie „Höllental“ und dem ARD-Dreiteiler „Mord, Macht, Medien. Der Fall Jens Söring“ im Panel „True Crime fürs Fernsehen. Wahrheitssuche in den öffentlichen Medien“ diskutiert. Schilling stellt mittels Off-Kommentar und einer Kompilation von „XY ungelöst“-Ausschnitten die plausible These auf, dass Zimmermann mit der Reinszenierung von Verbrechen – insbesondere von Sexualmorden an Frauen – unter dem Deckmantel der Aufklärung und Prävention feministische Emanzipationsbewegungen einhegen wollte. Dafür zitierte er sogar falsche Kriminalstatistiken und schreckte auch nicht vor einer Opfer-Täter-Umkehr zurück: „Monika musste sterben, weil sie nicht auf den Bus warten wollte“. Schillings Film ergibt so ein Sittenbild der Bundesrepublik in den späten 1960er Jahren.

Rechtsauffassung als Sittenbild

Ein Spiegel der unmittelbaren Nachkriegszeit ist Angela Summereders Film „Zechmeister“ (1981). Die damals junge Regisseurin dröselt in ihrem Debüt einen realen Kriminalfall auf, der sich in ihrem Heimatdorf 1948 ereignete: Maria Zechmeister soll ihren aus dem Krieg zurückgekehrten Mann vergiftet haben, sie wurde wegen Mordes verurteilt und saß rund 30 Jahre im Gefängnis. Die zur Drehzeit entlassene Frau und ihre Schwester kommen im Film zu Wort, die damaligen Ermittlungen werden nachgestellt und als Spielszenen in die 1980er Jahre transferiert, der Prozess als theatrale Performance unter der großen Dorflinde nachgestellt. Mit der hybriden Inszenierung hinterfragt Summereder Ungereimtheiten und Versäumnisse aus zeitlicher Distanz und deckt auf, wie die patriarchal-frauenfeindliche Dorfgemeinschaft die Justiz beeinflusst haben könnte. An „Zechmeister“ waren auch Bildgestalterin Hille Sagel und Elfie Miekesch beteiligt, der Film lief damals im Forum der Berlinale und wurde bisher nie im Fernsehen ausgestrahlt. Das Screening in Köln bot eine der seltenen Gelegenheiten, den Film auf großer Leinwand zu sehen und mit Angela Summereder ins Gespräch zu kommen.

Sylvie Lindeperg

Neben True-Crime und künstlerisch-dokumentarichen Formen bildete die Prozessdokumentation durch die Jahrzehnte einen weiteren Schwerpunkt. Der Vortrag von Historikerin Sylvie Lindeperg „Nuremberg. The Battle of Images“ zeigte verständlich auf, mit welchen unterschiedlichen rechts(philosophischen) Auffassungen die Alliierten nach Ende des Zweiten Weltkriegs über eine filmische Dokumentation der Nürnberger Prozesse stritten. Während den USA Gerichtsdramen aus Hollywood als Vorlage dienten, orientierten sich die Sowjets an den Stilmitteln stalinistischer Schauprozesse der 1930er Jahre. Anschaulich wurde das im Screening von „The Kiev Trial“ (2022) von Sergei Loznitsa. Der ukrainische Regisseur montiert darin ausschließlich Archivmaterial des ersten Prozesses gegen deutsche Nazis 1946. Neben den 15 Angeklagten kommen auch überlebende Zeug:innen der Gräueltaten in Auschwitz und Babi Yar zu Wort. Der Film endet mit authentischen Aufnahmen der Vollstreckung der Todesstrafe durch Erhängen. Wie authentisch die Lautstärke des Applauses bei der Verlesung der Urteile oder die Geräuschkulisse bei der öffentlichen Hinrichtung ist, legt Loznitsa nicht offen. Die geschickte Inszenierung der Originalaufnahmen von 1946 und die drastischen Bilder einer rund um die Galgen feiernden Menschenmenge erinnern an mittelalterliche Hinrichtungsspektakel und machen den Kontrast zur streng formalisierten Rechtsprechung von heute deutlich.

Rache oder Gerechtigkeit

Möglichkeiten und Grenzen von Gerechtigkeit und Wiedergutmachung der deutschen Justiz thematisiert auch Dominik Wesselys „Loveparade – Die Verhandlung“: Nach 156 Prozesstagen kommt das Gericht kurz vor Ablauf der Verjährungsfrist zu der Entscheidung, dass keiner der Angeklagten allein verantwortlich gemacht werden kann. Erst die Summe von Fehleinschätzungen führte zu der Katastrophe vom 24. Juli 2010 mit 21 Todesopfern und 652 Verletzen. Mit Empathie für die Betroffenen zeigt der Film, dass moralisch nicht überzeugen muss, was logisch und juristisch einleuchtet.

Die Diskussion mit Produzentin Antje Boemert und den Bildgestaltern Till Vielrose und Hayo Schomerus gab zudem Einblick, was in deutschen Gerichtssälen erlaubt ist. Beispielweise darf nur kurz vor Beginn eines Prozesstages gefilmt werden, aufgezeichnet oder protokolliert werden, Aussagen grundsätzlich nicht. Diese Filmverbot wurde im Anschluss ausführlich diskutiert. Argumente für die Archivierung und größere Transparenz standen dabei der Sorge um die öffentliche Meinung manipulierende Bilder gegenüber. Zur Ergänzung des juristischen Halbwissens hätte man sich hier eine Meinung von Rechtsexpert:innen gewünscht.

Neben Überschneidungen zwischen juristischen und dokumentarischen Verfahren, die in der akribischen Recherche mit dem Ziel der Wahrheitsfindung liegen, schälten sich in Köln auch Unterschiede heraus. Anders als die Justiz – oder auch Spielfilme und fiktionale Serien nach Whodunit-Muster – steht in dokumentarischen Formaten selten die Schuldfrage im Zentrum. Wichtiger ist oft der Anspruch, Opfern und ihren Angehörigen eine Stimme zu verleihen. So beginnt Philip Scheffners Spurensuche in „Revision“ (2012) 20 Jahre, nachdem zwei Romnja kurz hinter der deutsch-polnischen Grenze durch eine Gruppe Jäger angeblich versehentlich erschossen werden. Erst durch den Filmemacher erfahren die inzwischen nach Rumänien zurückgekehrten Familien der Opfer, dass es 1996 ein Verfahren gab. Dieses endete mit einem Freispruch, da nie zweifelsfrei geklärt werden konnte, wer den tödlichen Schuss abgab. Auch Scheffner kann und will keinen Täter ermitteln. Er legt die Gleichgültigkeit der deutschen Staatsanwaltschaft gegenüber den migrantischen Opfern und Angehörigen offen, hegt begründete Zweifel an der Unvoreingenommenheit der deutschen Justiz. Auch „Revision“ ist ein Spiegel gesellschaftlicher Zustände.

Das Schweigen der Täterin

Diese Zweifel wurden im Panel „Beklagen, Anklagen, Einklagen – Zivilgesellschaftliche Revisionen des NSU-Prozesses“ verstärkt. Ausgehend von Mareike Berniens und Alex Gerbaulets Kurzfilm „Tiefenschärfe“ wurden Interventionsmöglichkeiten von Film, Theater oder Formaten wie dem „Tribunal NSU-Komplex auflösen“ mit Gerbaulet, Ayşe Güleç (Pädagogin, Autorin, Kuratorin, Kunstvermittlerin und Aktivistin) und Autorin Kathrin Röggla („Laufendes Verfahren“) diskutiert. Wie kann Angehörigen eine Stimme und Raum gegeben werden, die ihnen im Rahmen eines Prozesses nicht zustehen? Güleç berichtete von ihren Beobachtungen beim Münchner NSU-Prozess und von Methoden, wie Angehörige, die als Zeug:innen der Nebenklage geladen waren, systematisch zum Schweigen gebracht wurden. Sei es durch mutmaßlich nicht funktionierende Mikrofone oder die richterliche Mahnung, eine Aussage „gehöre hier nicht hin“, oder durch die knapp bemessene Zeit, die ihnen eingeräumt wurde. Die Betroffenen wollten gehört werden, während die Angeklagte Beate Zschäpe beharrlich schwieg und Antworten verweigerte.

Die Möglichkeiten von Dokumentarfilmen und dokumentarischen Verfahren als direkte, juristische Intervention im laufenden Prozess sind begrenzt. Das ist weder eine überraschende noch eine negative Erkenntnis des Symposiums. Die Justiz legt einen Fall nach Ermittlung, Prozess und Urteilsfindung zu den Akten, die Rechtsmittel der Berufung und Revision sind irgendwann erschöpft. Ein Dokumentarfilm kann Ermittlungen wieder aufnehmen, Erkenntnisse neu kontextualisieren und eine womöglich andere Geschichte erzählen. Juristische Konsequenzen hat das nicht. Es kann aber denjenigen eine Stimme verleihen, die sonst nicht gehört werden.

Maxi Braun

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