Die Corona-Pandemie fordert unsere Gesellschaft in jeglicher Hinsicht heraus. Mit zunehmender Inzidenz steigen nicht nur die Quarantäne-, Hospitalisierungs- und Todesfälle, sondern auch die Zahlen häuslicher Gewalttaten an Frauen. Es ist offensichtlich, dass soziale Isolation, Zukunftsängste und Stress die derzeitige Situation schon seit Beginn der Pandemie verschärfen und in einigen Fällen dramatische Folgen hinter verschlossenen Türen mit sich bringen. Zudem ist klar geworden, dass das Virus nicht gerade demokratisch agiert. Besonders hart trifft es die Schwächsten und Krisenzeiten sind bekannt dafür, Ungleichheiten zu verstärken. Menschen, die körperlich, psychisch oder sozioökonomisch erschwerten Lebenssituationen ausgesetzt sind, leiden besonders unter der pandemischen Lage. Frauen, insbesondere geflüchtete, die ihren Alltag oder die Quarantäne gezwungenermaßen in Sammelunterkünften verbringen, sind dabei nicht unwesentliche Opfer dieser verheerenden Situation.
Einen sicheren Hafen boten zahlreichen schutzsuchenden Frauen während dieserschweren Zeit, aber auch bereits vor der Pandemie, einige Kölner Beratungsstellen und zwei autonome Kölner Frauenhäuser. Eine der Beratungsstellen ist agisra. Der Verein, der am zentral gelegenen Barbarossaplatzsein Zuhause hat, bietet seit 1993 psychosoziale Beratung und traumasensible Fachberatung sowie Begleitung für Migrantinnen und geflüchtete Frauen an. Dass die Zahlen der häuslichen Gewalttaten in den letzten Jahren einer sich aufwärts bewegenden Tendenz folgen und besonders während der Pandemie gestiegen sind, ist alarmierend. Für agisra war es gerade deshalb wichtig, trotz der Hygiene- und Abstandsregelungen während der Pandemie die Beratungsangebote für Notfälle aufrechtzuerhalten, um Frauen weiterhin vor Gewalt zu schützen.
2020 stiegen laut BKA die Opferzahlen von Frauen, die häusliche Gewalt erlitten, um 4,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr an. Dahinter verbirgt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine große Dunkelziffer. Hinzu kommt noch die Zahl der Femizide –allein im ersten Pandemie-Jahr wurden in Deutschland 132 Frauen durch patriarchalische Gewalt von Männern getötet. Der Beratung bei agisra muss jedoch nicht zwangsläufig ein physischer Gewaltakt vorausgehen. Auch verbale Demütigungen, Bedrohungen, ökonomische Gewalt innerhalb der Ehe oder Beschimpfungen sind triftige Gründe, die vor Gericht enden und Freiheitsstrafen mit sich ziehen können – und somit definitiv in die Kategorie häuslicher Gewalt fallen.
Gravierend sind dabei nicht nur die zentralen Gewalttaten, sondern die häufig ausweglos scheinende Situation der betroffenen Personen. Bereits der erste Schritt, die Kontaktaufnahme mit der Beratungsstelle, kann belastend und strapaziös sein. Die Hemmschwelle, agisra zu kontaktieren, ist oftmals dann hoch, wenn Frauen mit ihrem Partner zuhause sind oder sie selten Freunde treffen, sozialer Austausch fehlt und der Alltag sich grundlegend verändert hat. Daher ist es auch möglich, dass soziale Einrichtungen wie Schulen oder Frauenhäuser sowie Angehörige den Kontakt herstellen. Das transkulturelle Team von agisra bietet dann eine entsprechend breite Palette an psychosozialer Unterstützung an und klärt die Frauen über ihre Rechte auf. Dabei besteht eine zentrale Aufgabe der Unterstützung darin, einen geschützten Wohnort, beispielsweise ein Frauenhaus, ausfindig zu machen. Auf der anderen Seite vermitteln auch Frauenhäuser Bewohnerinnen an agisra, sofern diese Unterstützung in spezifischen Angelegenheiten benötigen.
Es ist offensichtlich, dass die Pandemie die Gewalttaten, unter denen zahlreiche Frauen täglich leiden, stark vorangetrieben hat. Dies sollte wieder einmal mehr dazu alarmieren, die Lebensrealitäten von Frauen – insbesondere Frauen mit Migrationshintergrund, die außerhalb der breiten Öffentlichkeit und innerhalb vieler politischer Diskurse und Entscheidungen exkludiert werden, zu berücksichtigen und für diese zu sensibilisieren. Patriarchalische Gewaltstrukturen und verletzte Frauenrechte, sowohl in Deutschland als auch international, führen zu zahlreichen katastrophalen geschlechtsspezifischen und rassistischen Gewalttaten. Freilich müssen diese Machtverhältnisse strukturell aufgebrochen und verändert werden, doch auch auf individueller Ebene sollte dies bedeuten, wachsam und solidarisch zu sein sowie aktiv zu werden, um Frauen und Kinder vor häuslicher Gewalt zu schützen. Denn nicht für alle Frauen ist das Zuhause ein sicherer Ort.
Agisra | Salierring 48, 50677 Köln | https://agisra.org/
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