Es gibt einen Moment in Jolles Performance, wo alles zu kippen droht. Die Live-Musik steigert sich in eine überlaute Kakophonie. Die Stories des Erzählers gehen im dröhnenden Sound unter. Die Performer haben im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen verloren. Alles scheint aus dem Ruder zu laufen. Jolles Inszenierung führt absichtsvoll solche Momente des Chaos herbei und scheut nicht vor makabren, verrückt anmutenden Szenen zurück. Nicht einfach aus solch dramaturgischer Übersteigerung die richtigen Schlüsse zu ziehen. Aggressiv kämpfen die beiden Performer Tuong Phuong und Ruben Reniers um einen Platz auf einer Tischplatte, die sich längst von ihrem fahrbaren Untergestell gelöst hat und zu kippen droht. Verbissen suchen sie die Platte mit Seilen an der Decke zu sichern und gleichzeitig den anderen davon zu verdrängen. Beide hängen in der Luft, beide gehen das Risiko ein, alles zu verlieren. Oder der Einstieg: Tonlos wird die Tänzerin Bibiana Jimenez, nackt bis auf einen Slip, mit einem Seil gefesselt und geknebelt, zu einem wehrlosen Bündel Mensch reduziert. Wenn sie willenlos auf einem Tisch liegt, tritt der serbische Regisseur Goran Cvetkovic an die Rampe, um vom Balkankrieg zu berichten – der Hintergrund der Szenen wird erkennbar. Er erzählt vom Leiden der Menschen und von der Suche nach Zeugen für Kriegsverbrechen. Bibiana Jimenez hat sich inzwischen ein Kleid übergezogen, die roten Seile hängen ihr noch zwischen den Beinen herab. Oder ist es Blut?
Jolles bildstarke Szenen wirken teils wie innere Bilder hinter Cvetkovic Erzählungen, teils so, als forsche Jolles seelischen Archetypen nach. Allerdings geht es in „BLGRD12“ klar um den Balkankrieg und nicht allgemein um Gewalt. Etwa wenn die beiden Tänzer Phuong und Reniers sich langsam aufrecht nähern, um sich dann in einer großartigen Zeitlupen-Sequenz zu verändern, bis sie – ebenfalls nackt – sich auf allen Vieren wie Tiere anfallen. Nachbarschaftsgräuel. Oder wenn die beiden später mit bunten Plastikenten brutal und hysterisch lachend Hockey spielen, wobei als Hockeyschläger eine Machete dient. Srebrenica. Doch Cvetkovic sagt auch, dass es in Serbien eine Opposition gegen Milosevic gab. Die allerdings wurde zum Schweigen gebracht. Und auch der Westen wollte sie nicht hören. Nirgendwo wird das deutlicher in dieser Performance als in der sich steigernden Musik von Tobias Hoffmann (Gitarre) und Max Andrzejewski (Schlagzeug), die mit ihrem heftiger und lauter werden Rocksound die Erzählungen von Cvetkovic immer mehr überlagern, bis nichts mehr zu verstehen ist. Mundtot.
„BLGRD12“ ist ein sehr persönliches und emotionales Stück. Nur beim informierten Zuschauer wird es Assoziationen zum damaligen Konflikt auf dem Balkan auslösen. Entstanden ist es aus Besuchen von André Jolles in Belgrad, wo er Goran Cvetkovic traf. Lösungen bietet es nicht an. Vielleicht gibt es auch keine. So wie in der Story von der beschissenen Insel aus Haruki Murakamis „Mister Aufziehvogel“, die der Tänzer Ruben Reniers vorträgt: „Die Scheiße fällt auf den Boden und bildet beschissene Scheißhügel … Es ist ein endloser Kreislauf.“
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