„Wie sieht eine Sprache des Kontrollverlusts aus? Und in welchem Verhältnis steht die Entzückung zum Tiefsinn, der Höhenflug der künstlichen Paradiese zur Schwerkraft der irdischen Affekte und Gegenstände?“ Diese fragenden Worte stammen vom Kurator der fünften Poetica und Gastgeber des Abends „Der wilde Muskel“.
Die Poetica widmet sich Fragen aus Literatur, Poesie und Wissenschaft, stets mit einem Hang zu drängenden gesellschaftspolitischen Themen. Dieses Jahr dreht sich alles um Sehnsucht, Euphorie und Exzess, sowohl im Prozess des Schreibens als auch für den Moment des Lesens. Die einen greifen im Schaffensrausch zu Substanzen, andere widmen sich nüchtern tiefsten menschlichen Gefühlen und Sehnsüchten. „Der Schaffensrausch, er war schon immer ein Teil der Kunst, ein Teil der Literatur“, sagte Marta Dopieralski vom Morphomata Kolleg im Vorfeld der Poetica. „Durch die verschiedenen Lesungen, Diskussionsforen und Gespräche mit den Autoren bekommen die Besucher unterschiedliche Perspektiven geboten.“
So auch das Gespräch und die Lesung mit Aris Fioretos. In den Werken des 1960 geborenen Göteborgers geht es um existentielle Themen wie Gewalt, Neuanfang, Kontrollverlust und Mord, vor allem jedoch um Sehnsucht, Beziehungen, Sinnlichkeit und Liebe. Er studierte in Paris, Stockholm und Yale. Seit 2010 ist er Professor für Ästhetik an der Hochschule Södertörn, Stockholm, seit 2011 Vizepräsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2010 hat er die erste kommentierte Werkausgabe von Nelly Sachs sowie eine Bildbiografie über sie veröffentlicht.
Moderiert wird der Abend von Literaturkritiker und Journalist Denis Scheck. Über den Abend hinweg setzt er gezielt Fragen und Pointen, die gut vorbereitet scheinen. Er weiß genau, was er von Aris Fioretos hören möchte, und vor allem, was er dem Publikum offenbaren will. Zu Beginn der Lesung führt Scheck in die Materie ein und kitzelt heraus, was Fioretos geprägt hat: Ihm ginge es in seinen Werken um den Puls eines Textes als körperliches Orakel – denn Literatur sei immer auch eine Frage der Verwaltung der Betroffenheit. Dass es beim Schreiben dabei um einen Ausgleich aus Innen und Außenwelt, von Kopf und Herz ginge, stünde immerfort im Mittelpunkt: „Literatur muss bewegen.“ Und das meint er wörtlich.
Die Verarbeitung seiner eigenen Migrationsgeschichte in „Der letzte Grieche“ nennt Fioretos als Beispiel für die autobiografischen Bezüge seiner Werke. In „Die Seelensucherin“, im Original „Stockholm Noir“ geht es um Sinnsuche und Erkenntnis, eingehüllt in einen medizinhistorischen Krimi. Auch hier herrscht eine Parallele – so Fioretos –, denn er habe medizinische Berichte für seinen Vater kontrolliert und sich somit gleich im redigieren geübt.
Veranstaltungsort und Atmosphäre könnten gemäß der Thematik kaum besser gewählt und inszeniert sein. Das Publikum sitzt fast wie in einer kirchlichen Messe angereiht, inmitten von monumentalen Säulen, dazu das passende erleuchtende und wärmende Licht, begleitet von Philipp Plessmann am Piano. Selbst der Tisch, an dem Fioretos sitzt, gleicht einem Altar.
Ambivalente Gefühle und Bewusstseinserweiterung
Besonders relevant für seine Arbeit sei seine Einstellung zur und sein Verständnis von Literatur. Für Fioretos gibt es zwei Arten von Autoren. Die erste erwähnt er gar nicht erst. Er zähle zu denjenigen, die ihren Lesern aufzeigen wollen, „was sie noch nicht wissen“. Für ihn hat der Akt des Schreibens Ähnlichkeiten mit dem Geschlechtsverkehr. Es geht darum „unerwartete Nachrichten“ zu lesen und neue Facetten aufzudecken. Dabei kitzelt Schenk heraus, welche Autoren ihn besonders beeinflusst haben. Und das sind unverkennbar die Werke von Edgar Allen Poe, insbesondere „The Tell-Tale Heart“, und Vladimir Nabokov. Sie schaffen es, meint Fioretos, den Leser in den ambivalentesten Gefühlen abzuholen. Sie nähern sich dem Unbekannten, dem Unheimlichen auf eine Art und Weise, die nicht nur geistig, sondern vor allem auch körperlich-sinnlich anspricht. Dass es dabei unumgänglich zur Konfrontation und zur Begegnung mit sich selbst auf einer anderen Ebene komme, sei eben auch sein Ziel. Fioretos zieht einen Vergleich zu den Erfahrungen eines Kindes, das nachts Geräusche hört: „Das macht einen unsicher, es ist unheimlich, und dennoch will man wissen, woher sie kommen.“ Und diese Zustände seien besonders da zu erzielen, wo der Mensch ungewohntes Terrain betrete, fernab vom rein Rationalen: „Ich möchte mich nicht auf Dauer auf den Zustand des Schreibens verlassen.“
Redet Fioretos über seine Intentionen, merkt man, dass er einst Wissenschaftler war. Er ordnet, kategorisiert die Botschaften, abstrahiert, verweist auf die Verbindungslinien und diverse historische sowie politische Diskurse, die sich hinter der eigentlichen erzählten Geschichte verbergen. Er erzählt, er sei als Sohn einer Österreicherin und eines Griechen mit der deutschen Sprache aufgewachsen und habe es als eine Art intellektuellen Ethos empfunden, auf Schwedisch zu schreiben – mit der einfachen Begründung, dass es für ihn etwas Neues darstellte, eben die Schnittstelle zwischen Bekannt und Unbekannt.
2020 erscheint Fioretos neuer Roman im Hansa-Verlag. Für den Abend entschied er sich aus seinem Roman „Mary“ (2016) vorzulesen. Sachlich und nüchtern und dennoch stets poetisch und eindringlich erzählt er von der hochschwangeren Mary, die aus Liebe und Treue zu ihrem Freund, der Studentenproteste gegen das autoritäre griechische Regime im Jahre 1970 anführt, verhaftet wird. Doch sie schweigt, gibt nicht mal ihren eigenen Namen preis, obwohl sie aus einer regimetreuen Familie kommt. Sie wird gefoltert und landet schließlich auf einer Gefängnisinsel – ein unbewohntes kahles Eiland, das nur die „Ratteninsel“ oder die „Hölle“ genannt wird.
Fioretos interessiert sich für das Innenleben der Frau, der es gelingt, mittels Solidarität, Aufrichtigkeit und Treue ihr wahres Selbst zu bewahren. Dafür liest er eine Stelle vor, in der die schwangere Mary in ihrer Zelle sitzt und einen Monolog über ihre Gefühle führt: „Meine frühe Einsamkeit war ein Urwald, ein Rausch, ein Mantel voller Taschen.“ Das Schrecklichste bleibt hierbei unerwähnt. Es sind vielmehr die detaillierten Beschreibungen, die in den „Muskel“, in den Leib gehen. Ihr sich verändernder Körper ist hierbei das Zentrum der Erzählung. Ihr Kind bezeichnet sie als „der Keim“. Sie malt sich aus, wie das Korn zur Hagebutte, zur Aprikose, zur Mandarine und zur Apfelsine wird. Mit feinen Antennen und viel Sprachgefühl gelingt es Fioretos, das Publikum binnen weniger Minuten in einen „Rausch“ zu ziehen.
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