Die Bilder und Plastiken von Bernard Schultze sind abstrakt, gegenstandsfrei, an ihren Farben und Farbformen kann man sich nicht sattsehen und doch bleiben sie mysteriös, lassen sich nicht ganz entschlüsseln. Andererseits verfügen sie über figurative oder naturhafte Anklänge. Das Dickicht des Waldes und die Struktur von Grotten und Korallenriffs kommen einem in den Sinn, und das Gewimmel der Wucherungen lässt sich in seiner assoziativen Kraft dem Surrealismus zuordnen. Allem aber liegt das Unbewusste zugrunde. Psychische Zustände sind in den Bildern unmittelbar festgehalten: Damit schloss Schultze an die abstrakt-expressive Malerei der 40er und 50er Jahre in Paris an.
Die Gleichzeitigkeit derartiger Ansätze spielt in der Ausstellung, die das Museum Ludwig ihm derzeit zum 100. Geburtstag ausrichtet, eine wichtige Rolle. Neben den Gemälden, auf denen sich die Farbe lichtdurchflutet und transparent ausbreitet, zeigt sie besonders die s/w-Zeichnungen, die in ihrer feinen Detailliertheit veristisch und skriptural zugleich wirken. Auch da hält Bernard Schultze den Moment vor der konkreten Gestaltfindung fest: „Bevor die Dinge ihr Antlitz bekamen“, heißt eines seiner Bilder. In der frühen Malerei von Schultze, der schon bald nach seinen Anfängen mit der Frankfurter Gruppe „Quadriga“ in den 50er Jahren zu den wichtigsten Vertretern der informellen Malerei in Deutschland gezählt wurde, äußert sich das Ahnungsvolle und Traumhafte in dunklen Verdichtungen der malerischen Darstellung. Später hellt das Kolorit auf, die Farbflächen verzahnen sich blättrig über einem lichten Grund, zugleich wächst das Bildformat. Nun wirken die Darstellungen bisweilen wie Einsichten in die Natur oder ein barocker Wolkenhimmel.
Schultzes Bilder haben etwas Nahsichtiges. Mitunter wird die Bildfläche von winzigen Adern und tropfenartigen Knäueln durchzogen. Das Bild wirkt als All-Over und zugleich als bedachter Ausschnitt, in dem die Perspektive kippt. Die Farben breiten sich aus und winden sich dann wieder als Fühler und Strudel über die Bildfläche. Tatsächlich hat sich Schultze von verschiedenen Stellen malerisch durch das Bild „gestrickt“, also in der kleinteiligen Erfahrung von diesem gearbeitet. Vor der Enge seines Ateliers an der Riehler Straße hatte er in einem Telefonat vor vielen, vielen Jahren gewarnt. Eberhard Roters hat darüber geschrieben, die „künstlerische Wirkungsstatt gleicht auf den ersten Eindruck hin tatsächlich einer nur ganz leicht und kaum merklich verhexten Wohnstube“. Die Gedrängtheit hing auch damit zusammen, dass in diesem Atelier zugleich seine Frau, die Objektkünstlerin Ursula gearbeitet und Schultze neben der Malerei Plastiken geschaffen hat, die sich mit flirrenden Tentakeln in alle Richtungen ausbreiteten, die „Migofs“. Gebaut aus eingefärbten Papieren über Drahtgeflechten sind sie Wesen und Wurzelwerk zugleich; zwischen fester Form und deren Auflösung wirken sie in ihrer vitalen Nervosität chaotisch und sind nicht zu überschauen. Sie führen ihr eigenes Leben.
Bernard Schultze wurde 1915 in Schneidemühl im heutigen Polen geboren. Er hat in Berlin und Düsseldorf studiert und nach dem Krieg zunächst in Frankfurt gelebt, ehe er 1968 nach Köln gezogen ist. Dort ist er hochgeehrt, mit Ausstellungen auf der ganzen Welt und etlichen Kunstpreisen ausgezeichnet, 2005 gestorben. Ein Teil seines Nachlasses ging in den Bestand des Museum Ludwig über. Hieraus und aus früheren Erwerbungen ist nun die Ausstellung zusammengestellt, die leider zu klein und folglich zu gedrängt ist. Wie wichtig aber Bernard Schultze als Persönlichkeit der jüngsten deutschen Kunstgeschichte ist, wird dann daran deutlich, dass sein Werk derzeit auch im Arp Museum Rolandseck und im Museum Kunstpalast in Düsseldorf gezeigt wird.
„Bernard Schultze. Zum 100. Geburtstag“ | bis 22.11. | Museum Ludwig | www.museum-ludwig.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Geschichte und Gegenwart
Anna Boghiguian im Museum Ludwig
Späte Ehrungen
Ursula Burghardt und Benjamin Patterson im Museum Ludwig
Ernste Themen im Gegenüber
Kresiah Mukwazhi im Museum Ludwig
Männer aus dem Lexikon
Gerhard Richters 48 Porträts im Museum Ludwig
Niemals gleich
Roni Horn im Museum Ludwig – kunst & gut 07/24
Zeit begreiflich machen
Die Neupräsentation der Sammlung zeitgenössischer Kunst im Museum Ludwig
Ein König schenkt
Schenkungen von Kasper König an das Museum Ludwig – kunst & gut 03/24
Gespür für Orte
Füsun Onur mit einer Retrospektive im Museum Ludwig – kunst & gut 12/23
Die eigene Geschichte
„Ukrainische Moderne & Daria Koltsova“ im Museum Ludwig – kunst & gut 09/23
Verschiedenen Perspektiven
Neupräsentation der Sammlung im Museum Ludwig
Innenleben der Wirklichkeit
„Ursula – Das bin ich. Na und?“ im Museum Ludwig – kunst & gut 05/23
Fließende Formen
Isamu Noguchi im Museum Ludwig – Kunst in NRW 06/22
Vorgarten der Unendlichkeit
Drei Ausstellungen zwischen Mensch und All – Galerie 12/24
Vorwärts Richtung Endzeit
Marcel Odenbach in der Galerie Gisela Capitain – Kunst 11/24
Mit dem Surrealismus verbündet
Alberto Giacometti im Max Ernst Museum Brühl des LVR – kunst & gut 11/24
Außerordentlich weicher Herbst
Drei Ausstellungen in Kölner Galerien schauen zurück – Galerie 11/24
Fragil gewebte Erinnerungen
„We are not carpets“ im RJM – Kunst 10/24
Geschichten in den Trümmern
Jenny Michel in der Villa Zanders in Bergisch Gladbach – kunst & gut 10/24
Ein Himmel voller Bäume
Kathleen Jacobs in der Galerie Karsten Greve – Kunst 09/24
Leben/Macht/Angst
„Not Afraid of Art“ in der ADKDW – Kunst 09/24
Lebenswünsche
„Körperwelten & Der Zyklus des Lebens“ in Köln – Kunst 09/24
Die Freiheit ist feminin
„Antifeminismus“ im NS-Dokumentationszentrum – Kunstwandel 09/24
Atem unserer Lungen
„Body Manoeuvres“ im Skulpturenpark – kunst & gut 09/24
Die Absurdität der Ewigkeit
Jann Höfer und Martin Lamberty in der Galerie Freiraum – Kunstwandel 08/24
Vor 1965
Marcel van Eeden im Museum Schloss Morsbroich in Leverkusen – kunst & gut 08/24