choices: Herr Heise, viele Menschen sehen den kommenden Europawahlen mit Bangen entgegen. Teilen sie diese Befürchtungen?
Arne Heise: Auf jeden Fall. Natürlich sind es nur Prognosen, aber ich denke, diese erlauben nur wenig Spielraum für Abweichungen. Sie zeigen, dass die euroskeptischen und nationalistischen Parteien einen heftigen Zuwachs haben werden.
Können diese Parteien dem Staatenbund schaden?
Sicherlich, nicht unbedingt durch die Mitglieder, die dann ins europäische Parlament entsandt werden. Aber dahinter steht ja eine breitere Bewegung, die der europäischen Integration sehr skeptisch gegenübersteht. Das sehen wir mittlerweile ja schon an einer ganzen Reihe von Landesregierungen in Mitgliedsstaaten, die nicht nur skeptisch, sondern ganz offen europafeindlich sind, wie Ungarn, oder auch Italien, einem der ursprünglichen Gründungsmitglieder. Auch in Osteuropa nimmt die Stimmung gegen die EU eher zu, als ab. Das sind keine Skeptiker, die fragen wie es mit der EU weitergehen soll, das sind ganz offene Anti-Europäer. Allein, dass Macron eine Initiative ergreift, wie man es bisher nicht gesehen hat, und in allen Ländern der EU einen Aufruf zur Veränderung veröffentlicht, zeigt, wie dramatisch die Situation ist.
Was wäre aus ihrer Sicht der schlimmste Fall?
Ich halte selbst die Auflösung des Staatenbundes für möglich. Das erste Anzeichen haben wir mit dem Brexit ja schon. Wir sehen zwar, wie schwer die Umsetzung letztendlich ist, müssen aber auch erkennen, dass dies nicht zu einem breiten Umdenken in Großbritannien geführt hat. Selbst bei einem neuen Referendum wäre der Ausgang voraussichtlich wieder sehr knapp. Den ersten Fall eines Austrittes haben wir also schon. Das könnte auch weitergehen – zwar nicht kurzfristig, wie ich hoffe, aber im Zuge der nächsten Wirtschaftskrise halte ich es für gut möglich, dass wir wieder vor so einer Situation stehen werden.
Seit gut einem Jahrzehnt taumelt die EU von einer Krise in die nächste. Welche Spuren hat das hinterlassen?
Durchaus sehr tiefe. Eine gewisse Euroskepsis hat die Entwicklung der europäischen Integration immer begleitet, was, wie ich glaube, nichts schlimmes ist, weil nicht unbedingt alle die Vorteile einer weiteren wirtschaftlichen, aber auch politischen und kulturellen Integration gesehen haben. Wir haben also immer auch Phasen gehabt, in denen die Integration ein wenig ruhte, in denen es skeptische Stimmen gab, aber dass nun für manche auch ganz klar die Auflösung der EU eine politische Option darstellt, das hat es in dieser Form noch nicht gegeben.
Welchen Herausforderungen müsste sich Europa eigentlich stellen?
Die europäische Integration hat ja sozusagen mehrere Säulen. Auch wenn wir uns in letzter Zeit angewöhnt haben, ausschließlich auf die ökonomische Säule zu sehen, gibt es auch noch die kulturelle und eine politische Säule. Die europäische Integration ist ja im Wesentlichen als Friedensprojekt entstanden, aber diese Perspektive wird heute in der EU überhaupt nicht mehr mitgedacht. Da haben wir völlig den historischen Bezug verloren. Auch im ökonomischen Bereich sehen immer weniger die EU als ein Mittel, das hilft, ihre Probleme zu beseitigen - etwa in der Währungsunion als vielleicht tiefste Form der europäischen Integration - sondern mehr als etwas, das ihre ökonomischen Probleme noch verschärft. Das haben wir im Nachklang der sogenannten Euro-Krise im wesentlichen in den südlicheren Ländern erlebt, in denen die Austeritätsprogramme wirklich tief in das wirtschaftliche und soziale Leben der Menschen eingeschnitten haben. Aber das eigentliche Problem besteht darin, dass Europa nach außen hin in keinster Weise mit einer Stimme spricht und sich etwa in Fragen der Flüchtlingspolitik alles andere als einig ist.
Die internationale Ordnung ist zuletzt spürbar in Bewegung geraten. Welche Rolle kann die EU zwischen anderen Großblöcken wie den USA und China spielen?
Sie könnte durchaus eine enorm wichtige Rolle einnehmen. Nach China ist die EU schließlich von den Einwohnerzahlen her die größte Gemeinschaft und ist immer noch vor China der größte Wirtschaftsraum. Sie könnte diese Rolle etwa nutzen, um die Kapital- und Warenmärkte offen zu halten, die sich derzeit ganz dramatisch in Richtung eines Protektionismus bewegen, vorangetrieben von den USA, einem eigentlich befreundeten Land. Die EU könnte ihre Kräfte nicht nur nutzen, um die Kanäle des freien Handels offen zu halten, sondern auch mit gutem Beispiel voran gehen und einen Binnenmarkt schaffen, um etwaigen protektionistischen Tendenzen innerhalb Europas den Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber auch hier sehen wir, dass die EU nicht mit einer Stimme spricht. Die EU-Kommission vertritt eine klare Position, die aber bei vielen Mitgliedsstaaten schon längst nicht mehr so klar ist. Und das schwächt die Position der EU. Es bedeutet, dass die Regierungen in krisenhaften Situationen lieber ihre nationalen Interessen vertreten als europäische, was ja auch gar nicht anders zu erwarten ist, denn die nationalen Regierungen sind ihrer Bevölkerung verpflichtet, und nicht einer diffusen europäischen Öffentlichkeit. Der Schritt, den wir gehen müssten, um den Krisen besser Herr zu werden, wäre im Grunde eine Vertiefung der Integration, und nicht ein Stehenbleiben oder Zurückrudern. Dass das gerade schwer zu verkaufen ist, liegt auf der Hand.
Wie hat sich der Rückhalt unter den EU-Bürgern selbst in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt?
Das europäische Volk wird ja regelmäßig befragt, was die Zuspruchsraten angeht, da gab es natürlich Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern, aber in der Regel waren die Zuspruchsraten vor der Finanzkrise relativ hoch. In den Ländern des Südens war sie tendenziell etwas höher, weil man sich dort mehr wirtschaftliche Vorteile erhofft hatte, als in den Ländern im Kernbereich, wie Deutschland oder Frankreich, wo es eher eine Befürchtung gab, in solidarische Haftung genommen zu werden. Dort waren sie etwas geringer, aber immer noch so hoch, dass man zufrieden sein konnte. Dass die Raten so dramatisch gefallen sind, liegt an krisenhaften Entwicklungen, die nicht von der EU ausgegangen sind, die aber gezeigt haben, dass sie wenig Antworten auf diese Entwicklungen hatte. Und die Antworten, die sie schließlich entwickelt haben, haben die Probleme nicht reduziert, sondern teilweise sogar noch verstärkt. Die Gewinne, die die europäische Integration bringt, etwa, dass der Zinswert in vielen Ländern gesunken ist, das sieht der Bürger nicht direkt. So wurde denn auch für die gute Entwicklung in den Südländern nicht die EU verantwortlich gemacht, sondern die eigenen nationalen Bemühungen. Wenn es dann nicht so gut läuft, weist man die Verantwortung gerne einer übergeordneten Instanz zu. Das ist ein ganz universelles Muster, damit muss die EU leben, das konnte sie bisher aber auch ganz gut.
Wie könnte die EU demokratischer werden?
Wenn wir mehr auf die europäische Ebene übertragen, also ein höheres Maß an Integration wollen, brauchen wir neben der Währungs- und der Wirtschaftsunion auch eine politische Union. Das hieße, wir müssten Instrumente schaffen, die in der Lage sind, regionale Fehlentwicklungen zu korrigieren. Wir haben zwar einen gemeinsamen Konjunkturzyklus, aber dessen Bedingungen setzen die Länder selbst fest, und so geraten manche Länder stärker in einen konjunkturellen Abschwung als andere und darauf muss reagiert werden. Das kann in der Regel über die Geld- und Finanzpolitik geschehen. Aber in der Euro-Zone ist die Geldpolitik so vereinheitlicht, dass sie nicht mehr auf regionale oder nationale Entwicklungen eingehen kann. Also muss es die Finanzpolitik übernehmen und in diesem Bereich haben wir uns mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt, später auch Fiskalpakt genannt, ganz enge Fesseln angelegt. Wenn wir diese Fesseln nicht lösen können, was recht schwer ist, weil sie in vielen Ländern in die Verfassung aufgenommen wurden. Wenn wir diese Fesseln nicht selbst lösen können, dann muss es eine europäische Ebene geben, die diese Aufgabe übernimmt. Unter dem Stichwort der Fiskalkapazität gibt es ein paar Ansätze, wir brauchen etwa zumindest eine europäische Wirtschaftsregierung, die in der Lage ist, über eine gewisse eingeschränkte Steuerhoheit, auf der Grundlage eines noch zu erarbeitenden fiskalförderalistischen Systems Fehlentwicklungen abzufangen. Überlegungen zu diesem Thema kommen zurzeit nicht von irgendwelchen Spinnern, sondern aus der Europäischen Kommission heraus. Die dort diskutierten Ansätze sind zwar noch viel zu klein gedacht, gehen aber schon mal in die richtige Richtung.
Wie ließen sich die Bürger für eine weitere Vertiefung der gewinnen?
Das wir das zurzeit nicht wirklich umsetzen können, ist die eine Sache. Wir haben aber mittlerweile erkannt, woran es noch fehlt. Wer die Integration nicht zurückdrehen will, der wird um einen weiteren Integrationsschritt nicht herum kommen. Diese weitere Ebene muss dann auch politisch legitimiert sein und es scheint klar, dass das europäische Parlament diese Legitimierungsaufgabe nicht übernehmen kann. Um demokratischer zu werden, muss man eine Umsetzung finden, die das Leben der Leute merklich verbessert und Europa zugeschrieben werden kann. Wenn der Aufruf, Europa zu erneuern, zu wirklichen, nachvollziehbaren und sichtbaren Konsequenzen führt, und das den Leuten am besten dadurch vor Augen geführt werden kann, indem sich die wirtschaftliche Entwicklung verbessert und der Druck auf die Sozialsysteme abnimmt, dann könnte vielen auch ein großer Teil ihrer Unsicherheit genommen werden.
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