Wenn wir vom „Ende der Welt“ sprechen, dann denken wir an Einsamkeit und Verlassenheit. Ein Gefühl, das auch Kindern nicht unbekannt ist. Abgehängt vom Rest der Welt hat man den Eindruck, im Niemandsland verloren zu sein, während die anderen Spaß haben. So geht es auch Lucas, der mit seinen Eltern an der chilenischen Küste lebt. Hier, auf dem Lande, gibt es die Hamburger nicht, die Lucas so liebt, aber er weiß sich zu beschäftigen, er forscht und liest. Was ihm wirklich fehlt, ist ein richtiger Freund, mit dem man alles teilen kann.
Der Vater von Lucas ist Meeresbiologe, von ihm hat er das Morsen gelernt, sodass er jeden Abend mit der Taschenlampe seine Lichtsignale über das Meer schickt. Und siehe da, er erhält Lichtzeichen von Vera, einem gleichaltrigen Mädchen, das auf der anderen Seite des Pazifiks im Süden der russischen Halbinsel Kamtschatka lebt. Auch sie hat Sehnsucht nach einem Freund. Dass die beiden 16.000 Kilometer Entfernung zwischen sich haben, blenden wir jetzt einmal aus. Denn vorstellen darf man sich alles.
Auch Anna Desnitskaya hatte selbst schon mit Einsamkeit zu kämpfen, als sie 2022 mit ihrer Familie Urlaub auf Zypern machte und vom Ausbruch des Krieges in der Ukraine überrascht wurde. Sie wusste, dass sie nicht mehr nach Moskau würde zurückkehren können. Inzwischen hat sie eine neue Heimat in Montenegro gefunden. Sie erzählt die Geschichte von Lucas und Vera in Form eines Wendebilderbuchs. Erst sehen wir die Welt des Jungen und dann die des Mädchens. Anna Desnitskaya ist eine Meisterin der Illustration, jedes Detail des täglichen Lebens kann sie ins Bild setzen.
Das hat sie schon mit ihren vielfach preisgekrönten Büchern „Märkte in aller Welt“ und „Alle einsteigen!“ über die Geschichte der U-Bahn bewiesen. Die Russin besitzt ein großes Talent für den Einsatz von Farben. So schenkt sie den Welten der beiden Kinder eine besondere Wärme – man fühlt sich im Leben von Lucas und Vera sofort zuhause. Bei aller Melancholie ist Desnitskaya ein freundliches Buch gelungen, mit dem man zwei Freunde gewinnt. Die Texte sind in einer klaren Sprache verfasst, die Grundschulkindern leicht zugänglich ist. Die Bilder mag man sich eh immer wieder anschauen.
Anna Desnitskaya: Am Ende der Welt | A. d. Russ. v. Thomas Weiler | Gerstenberg Verlag | 48 Seiten | 16 Euro
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Hommage auf Mascha Kaléko
Sarah Lorenz liest im King Georg
Gespenster zum Gähnen
Junges Buch für die Stadt Köln 2025
Bücher in Form
Der Deutsche Fotobuchpreis in Köln
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Schon immer für alle offen“
Marie Foulis von der Schreibwerkstatt Köln über den Umzug der Lesereihe Mit anderen Worten – Interview 03/25